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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
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Grammatik und Stilistik

DIE ZEITENFOLGE IM DEUTSCHEN (TEIL 2)
von R. Wyß

Ergänzung zu  Zeitenfolge, Teil 1
( Mitteilungen 1/2018, S. 3, 5 und 7).

1. dass-Sätze
Ein Leser hat die Meinung vertreten, im ersten Beispiel auf S. 3 und 5 sollte im Nebensatz doch lieber das Präsens ver­wendet werden: "Er (Cornelius Gurlitt) wollte nicht, dass man ihn beobachtet." Begründung: „Für mich gibt der dass-Satz an, was ‚er’ in der damaligen Gegenwart nicht wollte, ergo Präsens.
Wenn wir dieser Meinung folgen, stellen wir die Konkordanz der Tempora zwischen Haupt- und Neben­satz infrage. In der Tat gibt es dafür zwei Argumente:
1. Der Nebensatz kann der indirekten Rede im weiteren Sinne angenähert werden. In der indirekten Rede im engeren Sinne, d.h. wenn sie nicht durch dass, ob oder ein Fragewort (wer, was, wo z.B.) eingeleitet wird, ist der sog. gemischte Konjunktiv zu verwenden. Da der Konjunktiv Präsens in vielen seiner Formen mit dem Indikativ (der Wirklichkeitsform) zusammengefallen ist, werden die fehlenden ein­deutigen Formen durch jene des Konjunktivs Präteri­tum ersetzt. Das hat zur Folge, dass es keine Rolle mehr spielt, ob das Verb im Hauptsatz im Präsens oder im Präteritum steht.
Der Kunde sagt/sagte, er kaufe sein Brot lieber beim Bäcker als im Supermarkt.
Die Kunden sagen/sagten, sie kauften sein Brot lieber beim Bäcker als im Supermarkt.
2. In dass-Sätzen ist nach der Duden-Grammatik fast alles möglich:
Der Bäcker dachte, er müsse der Tochter jetzt die Wahrheit sagen. Er hoffte, dass sie ihm die Lüge nicht allzu übel nehme/nimmt / nehmen wird/werde/würde/ nahm.
Das ist ein etwas krasses Beispiel für die Kultur der Beliebigkeit, welche bei Duden gepflegt wird. Es wird hier alles aufgezählt, womit auf allen Stilebenen gerechnet werden kann oder muss. Es ist nicht einzusehen, wozu in dem zitierten Nebensatz mit dem Präsens oder dem Futurum die Tempusbarriere durchbrochen werden sollte:   Er hoffte, dass sie ihm die Lüge nicht allzu übel nimmt / nehmen wird.  Dieser Wechsel macht den Satz holperig und nähert ihn der Umgangssprache an. Das eignet sich für gewisse Formen derLiteratur, aber nicht zu allgemeinem Gebrauch in sorgfältigem Deutsch.
Der Konjunktiv Präsens wirkt zwar edel, aber leicht altertümlich. Ich verwende ihn nach hoffen eher selten:  Er hoffte, dass sie ihm die Lüge nicht allzu übel nehme.
Wie ist es denn mit dem Präteritum? Es ist grundsätzlich schon denkbar, vernünftigerweise aber nur bei Gleichzeitigkeit oder Fast-Gleichzeitigkeit oder bei von der Zeit unabhängig gültigem Inhalt der Hoffnung. Ein Beispiel dazu:  In der Kramgasse kam dem flüchtigen Dieb ein Polizist entgegen. Der Dieb zog seinen Schal ums Kinn und hoffte, dass ihn der Poizist nicht erkannte.  Im vorliegenden Satze, in der es um die Hoffnung des Bäckers geht, ist jedoch das Präteritum eine unglückliche Lösung:   Er hoffte, dass sie ihm die Lüge nicht allzu übel nahm.  Als er hoffte, hatte der Bäcker seine Lüge noch gar nicht gebeichtet. Das Ergebnis des Geständnisses ist so eindeutig nachzeitig, dass das auch formal ausgedrückt werden sollte.
Es bleiben zwei Lösungen. Die erste gleicht das Beispiel der indirekte Rede im engeren Sinne an. Diese Version ist sehr wohl vertretbar:   Er hoffte, dass sie ihm die Lüge nicht allzu übel nehmen werde.
Ich ziehe knapp die verbleibende Lösung vor, weil eine Verwechslung mit dem Konditional aus­geschlossen werden kann:  Er hoffte, dass sie ihm die Lüge nicht allzu übel nehmen würde.  Nun, es ist mir bewusst, dass mein Gedankengang von der Duden-Redaktion als elitär betrachtet würde.
Natürlich ist das Präsens ein „zeitlich unspezifisches Tempus“:  Ich weiß/habe immer gewusst/wusste schon als Kind, dass die Erde rund ist.  Hier wird im Nebensatz offensichtlich von einer Tatsache von Dauer gesprochen. Es ist in der Hochsprache nicht zu empfehlen, nach einem Hauptsatz im Präteritum im Nebensatz ohne triftigen Grund das Präsens zu bringen. Der triftige Grund kann Anlehnung oder auch Anbiederung an die lässige Umgangssprache sein.
In einem weiteren Beispiel aus der Duden-Grammatik haben wir eine solche stilistische Anlehnung:
Und im Ford verkündete der Friseur meinem Großvater (…) [Präteritum], dass er ihn ab heut nicht mehr rasieren wird [Futur I].
Eine ausreichende temporale Einordnung ist in dem obigen Beispiel durchaus gegeben: „ab heut nicht mehr“. Der Wechsel beginnt bereits mit dem Zeitadverbiale ab heut, womit ein Perspektivenwech­sel eingeleitet wird. Stilistisch haben wir es mit einer Vermengung von direkter und indirekter Rede zu tun, wie wir sie typischerweise in der Umgangssprache finden und auch in der erzählenden Literatur, wenn diese uns möglichst erlebnisnah in eine erzählte Situation versetzen will. Dazu passt, dass die Kurzform heut für heute verwendet wird.
Auch in den folgenden Beispielen beeinflusst die Perspektive, aus der eine Handlung erzählt wird, die Wahl des Tempus im Nebensatz:
Fritz wusste nicht, dass er einen Vetter im Thurgau hatte.
(Was er heute weiß, ist in dieser Erzählung nicht von Belang. Vielleicht bleibt offen, ob sein Vetter überhaupt noch lebt. Vielleicht soll aus Diskretion auch nicht verraten werden, ob der Vetter noch lebt.)
Fritz wusste nicht, dass er einen Vetter im Thurgau hat
Hier wird der Bogen zur Gegenwart gespannt. Es ist auch anzunehmen, dass beide noch leben. Wir bekommen außerdem den Eindruck, dass uns der Verfasser in die erzählte Situation versetzen will. Wie sinnvoll das ist, lässt sich nur aus dem Zusammenhang beurteilen.
Von einer „indirekten Rede im weiteren Sinne kann aber nicht die Rede sein, wenn der Satz so lautet:
Fritz musste darauf Rücksicht nehmen, dass er einen Vetter im Thurgau hatte.
Das Präteritum im Hauptsatz verlangt in diesem Falle zwingend ebenfalls das Präteritum im Nebensatz. Präsens geht hier im dass-Satz gar nicht:
* Fritz musste darauf Rücksicht nehmen, dass er einen Vetter im Thurgau hat.
In dem Satze, der zu diesen Überlegungen geführt hat, wirkt das Präsens makaber, denn wenige Monate nach der Polizeiaktion in Salzburg verstarb bekanntlich Gurlitt. (Der Kontext des Satzes ist bereits in den letzten Mitteilungen zitiert.) Das Präteritum ist hier deshalb auch im Nebensatz angezeigt:
Als man das Haus in Salzburg 2014 aufmachte, waren überall Holzbretter an den Fenstern. Er (Gurlitt) wollte nicht, dass man ihn beobachtete.

2. Diese Sätze wurden in den letzten Mitteilungen als „Hausaufgabe“ zur Redaktion vorgelegt:

  • Zufälligerweise trafen wir uns im Bus wieder. Der Streit war vergessen. Gemeinsam haben wir Comics gezeichnet und uns auch sonst oft getroffen. Wir hörten die gleiche Musik und mochten die gleichen Filme.
  • Ich fragte mich oft, wieso alles so gekommen ist.
  • Es ist schade, dass wir nicht auf einander zugehen können, aber es zeigte sich ja, dass es jetzt besser ist.
  • Ich habe mit einer Freundin über den UNO-Beitritt geredet und musste feststellen, dass sie sich nicht besonders dafür interessiert.
  • Ja oder nein zur Volksinitiative «Für gesunde sowie umweltfreundlich und fair hergestellte Lebensmittel»? Diese Frage stellte uns letzten Freitag der Staatskundelehrer. Keiner in unserer Klasse hat sich bis dahin mit diesem Thema befasst.
  • In der Schule erzählte ich meinen Freunden stolz, dass ich nun einen kleinen Bruder habe.
  • Ich dachte mir nichts dabei, da ich solche Schmerzen schon öfters hatte.

Mögliche Lösungen: (Erläuterungen zur hier getroffenen Wahl finden sich anschließend auf S. 15.)

  • Zufälligerweise trafen wir uns im Bus wieder; der Streit war vergessen. Wir sahen uns danach öfters: Gemeinsam zeichneten wir Comics, wir hörten die gleiche Musik und mochten die gleichen Filme.
  • Ich fragte mich oft, wieso alles so gekommen war.
  • Es ist schade, dass wir nicht auf einander zugehen können, aber es hat sich ja gezeigt, dass wir uns besser meiden.
  • Ich habe kürzlich mit einer Freundin über den UNO-Beitritt geredet. Ich musste feststellen, dass sie sich nicht besonders dafür interessierte.
  • Ja oder nein zur Volksinitiative «Für gesunde sowie umweltfreundlich und fair hergestellte Lebens­mittel»? Diese Frage stellte uns letzten Freitag der Staatskundelehrer. Keiner in unserer Klasse hatte sich bis dahin mit diesem Thema befasst.
  • In der Schule habe ich meinen Freunden stolz erzählt, dass ich nun einen kleinen Bruder habe.
  • Ich dachte mir nichts dabei, da ich solche Schmerzen schon öfters gehabt hatte.
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2. Zu den „Hausaufgaben“
1. Das Präteritum (die Vergangenheitsform) soll hier durchgezogen werden. Es gibt keinen stilistischen oder inhaltlichen Grund, zwischen Präteritum und Präsens Perfekt abzuwechseln.
2. Das Ereignis des Nebensatzes ist vor jenem des Hauptsatzes eingetreten. Diese Vorzeitigkeit muss eine grammatische Entsprechung haben: Zum Präteritum des Hauptsatzes gehört das Präteritum Perfekt des Nebensatzes (Vergangenheitsform – Vorvergangenheit).
3. Das Präteritum nach aber hängt in der Luft. Es geht ja hier nicht darum, Vergangenheit und Gegenwart einander gegenüberzustellen; vielmehr haben wir nach aber ein Ergebnis, eine knapp zusammenfassende Erklärung dafür, dass sich die beiden Leute fremd bleiben. Diese enge kausale Beziehung sollte durch die verwendeten Tempora ausgedrückt werden: Präsens Perfekt (Perfekt, Vorgegenwart) und Präsens (Gegenwartsform). Das Ende des Satzes habe ich beiläufig stilistisch verbessert.)
4. Richtig ist es, wie im Beispiel eine erlebte Begebenheit im Präsens Perfekt einzuführen und dann im Präteritum näher darauf einzugehen. Daran ist nichts zu verbessern. Der folgende dass-Satz kann hingegen wieder zu Diskussionen Anlass geben. Der Wechsel zum Präsens im Sinne der „Veranschaulichung“, als zum Eintauchen in die damalige Gegenwart, wird häufig vollzogen. Dieser Gebrauch kann ist deshalb nicht grundsätzlich als falsch bezeichnet werden. Die Beurteilung hat m.E. auch hier situativ zu erfolgen. Im vorliegenden Beispiel geht es darum, dass die Freundin, um die es im Satz geht, sich damals nicht für Politik interessierte. Ob sie ihre Einstellung seither geändert hat, spielt hier zunächst keine Rolle und bleibt offen. Es bleibt die Spannung aufrecht, ob im folgenden Gespräche und Lektüre ihre Haltung beeinflussten. Deshalb ist es angezeigt, die inhaltliche Gleichzeitigkeit von Haupt- und Nebensatz durch dasselbe Tempus, also das Präteritum, anzuzeigen.
5. Der zweite Satz ist im Präteritum; der Inhalt des dritten ist vorzeitig dazu, deshalb muss er im Präteritum Perfekt stehen.
6. Diesem Beispiel fehlt zugegebenermaßen der Kontext. Wenn wir den Satz für sich allein nehmen, handelt es sich um eine zusammenfassende Mitteilung, und dann ist der Fall klar: Der Nebensatz steht im Präsens, der Inhalt des Hauptsatz ist vorzeitig dazu und muss deshalb ins Präsens Perfekt gestellt werden. Es geht keineswegs um eine Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit.
7. Der Nebensatz ist vorzeitig zum Hauptsatz, der im Präteritum steht. Im Nebensatz ist deshalb das Präteritum Perfekt zu verwenden.

Latzel, Sigbert. Übungen zum Gebrauch von Perfekt und Präteritum im Deutschen. München (Hueber) 1982.

Duden, Bd. 4 – Die Grammatik. Berlin  2016, S. 536.


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