DIE ZEITENFOLGE IM DEUTSCHEN (TEIL 1)
von R. Wyß
1. DIE ABGRENZUNG VON PRÄTERITUM UND PERFEKT
WUCHERNDE VORGEGENWART
In den Schweizer Mundarten ist die
Vergangenheitsform (das Präteritum) praktisch verschwunden; auch
in der deutschsprachigen Nachbarschaft unseres Landes hat sich in der
gesprochenen Sprache die Vorgegenwart (das Präsens Perfekt oder einfach
Perfekt) nicht nur als Zeitform (Tempus) für soeben Geschehenes und für
zusammenfassendes Festhalten von Ereignissen und Ergebnissen, sondern
auch als Zeitform des Erzählens und Berichtens etabliert und das
Präteritum stark zurückgedrängt; das gilt nicht nur für den süddeutschen
Raum, sondern seit einiger Zeit auch für den Norden. Allerdings gilt
für den Süden, dass das Präteritum in der Umgangssprache nur noch für
sein und haben und einige weitere häufige Verben überhaupt gebraucht
wird.
Einige Beispiele
1. Zusammenfassung, Ergebnis:
Silvia ist soeben zur Tür hereingekommen. (Soeben Geschehenes, implizit auch ein Ergebnis: Silvia ist jetzt da.)
Nach drei Jahren unermüdlichen Einsatzes hat Fritz mit seiner Firma zum erstenmal einen schönen Gewinn erzielt.
Starke Regenfälle, Hangrutsche und Hagel haben am Samstagabend im westlichen Aargau rund um die Kleinstadt Zofingen grosse Schäden verursacht. (NZZ 09.07.2017)
2. Erzählung, Bericht (Nacheinander von Handlungen)
Ich hatte noch ein bisschen Husten und Schnupfen. Es ging mir zwar gut, trotzdem habe ich mich dafür entschieden, zum Arzt zu gehen. Ich bin in die Ambulanz gegangen und habe eine halbe Stunde im Wartezimmer gewartet. Dann hat mich die Krankenschwester gerufen.
http://www.oskole.sk/wap/index.php?id_cat=10&year=8&new=18320
In der Standardsprache ist ein solcher Text unmöglich. Das Präteritum müsste durchgezogen werden:
Ich hatte noch ein bisschen Husten und Schnupfen. Es ging mir zwar gut, trotzdem entschied ich mich dafür, zum Arzt zu gehen. Ich ging in die Ambulanz und wartete dort eine halbe Stunde lang auf meine Konsultation. Dann rief mich die Krankenschwester.
Die Tendenz, das Perfekt zu strapazieren, hat
auch auf den Deutschunterricht für Fremdsprachige übergegriffen.
Vielleicht fällt die Bildung der Perfekt-Formen leichter, dafür aber
kann Verwirrung durch das oft willkürliche Nebeneinander der Zeitformen
entstehen.
Für das Präteritum bleiben so in den Mundarten
und in der Umgangssprache vorwiegend nur noch das Statische und
Durative, entsprechend dem französischen imparfait. Das
Nacheinander von Handlungen und Ereignissen wird zunehmend in der
Vorgegenwart ausgedrückt, wiederum ähnlich wie im Französischen, wo das passé composé das passé simple aus
der gesprochenen Sprache fast vollständig verdrängt hat und auch in die
Schreibsprache eingedrungen ist. Dadurch muss das Perfekt wie das passé composé zwei ganz verschiedene Rollen spielen, nämlich
sowohl jene der Zeit fürs Erzählen und Berichten als auch der Zeitform
für Zusammenfassungen und Ergebnisse. Das bringt eine Häufung von
Hilfsverben mit sich, macht den Stil ziemlich holperig und
beeinträchtigt eventuell auch das Verständnis.
UMGANGSSPRACHE UND SCHRIFTSPRACHE
Das schlägt oft auf die Texte durch, die in den
Medien unseres Landes veröffentlicht werden. Das Niveau sowohl des
gesprochenen als auch des geschriebenen Deutsch ist heute bei den
Journalisten sehr unterschiedlich. Dazu werden später noch Beispiele
folgen.
In Interviews schlägt die Verwendung der
Vorvergangeheit in der oben beschriebenen Funktion oft voll durch, wie
die auf der folgenden Seite zitierten Stellen aus einem Interview mit
Maurice Philip Remy, einem Deutschen aus München zeigen. Der Text wurde
auf einer Webseite von SRF veröffentlicht.
Die offenbar wörtliche Wiedergabe des Interviews
vermittelt natürlich den Eindruck der Authentizität; dennoch stellt
sich die Frage, ob sich bei der Überführung eines Gespräches in einen
schriftlichen Text nicht auch stilistische Anpassungen aufdrängen, eben
z.B. einen konservativeren Gebrauch der Zeitformen.
Beispiele aus der Praxis
Vielleicht macht es Ihnen Spaß, die folgenden
Sätze aus dem Interview für einen schriftlichen Text auf der Website
unserer nationalen Radio- und Fernsehanstalt stilistisch adäquat zu
redigieren. Unsere Vorschläge finden Sie auf der nächsten Seite.
1. Als man das Haus in Salzburg 2014 aufmachte, waren überall Holzbretter an den Fenstern.
Er [Cornelius Gurlitt] wollte nicht, dass man ihn beobachtet.
2. Er [Hildebrand Gurlitt]
war der Übervater, wurde auf einen Sockel gehoben, vor allem nach
seinem frühen Tod. Der hatte ja auch einen Erfolg jenseits des
Kunsthandels. ... Der war schon wer. Er [Cornelius Gurlitt] hat den Vater bewundert, verehrt geradezu als Säulenheiligen.
3. Wieso vermachte er sein Vermögen einem Museum in der Schweiz?
Ich glaube tatsächlich, dass er sich eine
Stiftung in der Schweiz ausgewählt hat, weil er in diesem Gedanken
verfangen war, die Schweiz sei ein neutrales Land und habe schon immer
Schutz geboten vor den Nazis.
4. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb er
sich die Schweiz ausgesucht hat: Weil er Angst hatte, die Nazis und die
alten Seilschaften wollen ihm seine Sammlung wegnehmen.
5. Zur Zeit des Interviews war Gurlitt schon seit über zweieinhalb Jahren tot.
«Gurlitt hat ab den 60ern nur noch im Halbdunkel gelebt.» SRF 3.1..2017
Quelle:
https://www.srf.ch/kultur/kunst/der-fall-gurlitt-gurlitt-hat-ab-den-60ern-nur-noch-im-halbdunkel-gelebt
(3.11.2017)
Das Präteritum als Erzählzeit
Im allgemeinen ist das Präteritum in der
Schriftsprache als Zeit des Erzählens und Berichtens zum Festhalten des
Nacheinanders von Handlungen und Ereignissen zum Glück noch stets
unangefochten. So ist der Formenreichtum des Deutschen in den Texten
weitgehend erhalten. Etwas weniger gut sieht es bei der Zeitenfolge in
Haupt- und Nebensätzen aus. Doch davon später. Es folgen aus der
Literatur zwei Beispiele, welche die Verwendung des Präteritums als
Erzählzeit zeigen:
Ich ging also in das Haus hinein und holte
meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab
mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich
durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als
ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie
gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und
pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief
den armen Leuten nach allen Seiten stolz und zufrieden Adjes zu, aber es
kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag
im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich
meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße
fortgehend...
Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts
So saß nun alles und war still; eine Pfeife
gab das Signal, der Vorhang rollte in die Höhe und zeigte eine hochrot
gemalte Aussicht in den Tempel. Der Hohepriester Samuel erschien mit
Jonathan, und ihre wechselnden wunderlichen Stimmen kamen mir höchst
ehrwürdig vor. Kurz darauf betrat Saul die Szene, in großer Verlegenheit
über die Impertinenz des schwerlötigen Kriegers, der ihn und die
Seinigen herausgefordert hatte. Wie wohl ward es mir daher, als der
zwerggestaltete Sohn Isai mit Schäferstab, Hirtentasche und Schleuder
hervorhüpfte und sprach: ›Großmächtigster König und Herr Herr! es
entfalle keinem der Mut um deswillen; wenn Ihro Majestät mir erlauben
wollen, so will ich hingehen und mit dem gewaltigen Riesen in den Streit
treten.‹ – Der erste Akt war geendet und die Zuschauer höchst begierig
zu sehen, was nun weiter vorgehen sollte; jedes wünschte, die Musik
möchte nur bald aufhören. Endlich ging der Vorhang wieder in die Höhe.
David weihte das Fleisch des Ungeheuers den Vögeln unter dem Himmel und
den Tieren auf dem Felde; der Philister sprach Hohn, stampfte viel mit
beiden Füßen, fiel endlich wie ein Klotz und gab der ganzen Sache einen
herrlichen Ausschlag.
Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre
Lösungsvorschlag zu den Beispielen aus der Praxis
1. Als man das Haus in Salzburg 2014 aufmachte, waren überall Holzbretter an den Fenstern. Er [Cornelius Gurlitt] wollte nicht, dass man ihn beobachtete.
2. Er [Hildebrand Gurlitt] war der Übervater, wurde auf einen Sockel gehoben, vor allem nach
seinem frühen Tod. Hildebrand hatte ja auch Erfolg jenseits des
Kunsthandels. Der war schon wer. Cornelius bewunderte seinen Vater, er verehrte ihn geradezu als Säulenheiligen.
3. Wieso vermachte er sein Vermögen einem Museum in der Schweiz?
Ich glaube tatsächlich, dass er sich eine Stiftung in der Schweiz auswählte,
weil er in in dem Gedanken verfangen war, die Schweiz sei ein neutrales
Land und habe schon immer vor den Nazis Schutz geboten.
4. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb er sich die Schweiz aussuchte: Weil er befürchtete, dass die Nazis und die alten Seilschaften ihm seine Sammlung wegnehmen wollten.
5. Zur Zeit des Interviews war Gurlitt schon seit über zweieinhalb Jahren tot.
«Gurlitt hatte seit den 60ern nur noch im Halbdunkel gelebt.»
Bemerkungen:
1. Nach wollte im Präteritum muss im
Nebensatz ebenfalls das Präteritum stehen. Das ganze Satzgefüge bezieht
sich auf die Vergangenheit, der Wille und der Inhalt des Willens sind
praktisch gleichzeitig, und deshalb gilt auch für die Zeitformen das
Gebot der Gleichzeitigkeit. Übrigens lebte Gurlitt zur Zeit des
Interview nicht mehr; schon deshalb wäre das Präsens absurd.
2. Der Wechsel zum Perfekt ist auf die Scheu der
Umgangssprache vor dem Präteritum zurückzuführen. Es liegt keine
Zusammenfassung von Ereignissen in der Gegenwart vor.
3. Es geht durchwegs um Vergangenes; sowohl im
dass-Satz das Perfekt als auch im folgenden weil-Satz muss das
Präteritum verwendet werden. Der Konjunktiv I im Nebensatz ist in
Ordnung, er zeigt Remys Distanzierung von C. Gurlitts Meinung an. Davon
später in Teil 2.
4. Es gelten die gleichen Überlegungen wie in No. 3.
2. ZEITENFOLGE IN HAUPT- UND NEBENSATZ
VORZEITIGKEIT DES NEBENSATZES – KEIN HEXENWERK
Vorzeitigkeit eines Nebensatzes zu markieren ist
nichts Schwieriges. Die Regeln sind einfach; die Zeitform des
Nebensatzes hängt von jener des Hauptsatzes ab.
Drei Beispiele:
Wir werden Sie anrufen, sobald die Bücher eingetroffen sind.
Es freut mich, dass du dich zum Kurs angemeldet hast.
Wir waren müde, nachdem wir das Schloss besichtigt hatten.
Im ersten Satz steht der Hauptsatz im Futurm,
der Zukunftsform, im zweiten im Präsens, der Gegenwartsform. Das Futurum
ist im Deutschen eigentlich nur ein Spezialfall des Präsens: Es wird
mit dem Hilfsverb werden im Präsens und dem Infinitiv des Hauptverbs gebildet.
Nach einem Präsens oder Futurum im Hauptsatz
steht das Verb des Nebensatzes in der Vorgegenwart (dem Präsens Perfekt
oder einfach Perfekt).
Im dritten Satz steht jedoch der Hauptsatz im
Präteritum, der Vergangenheitsform. Nach einem Präteritum im Hauptsatz
steht das Verb des Nebensatzes in der Vorvergangenheit (dem Präteritum
Perfekt oder auch Plusquamperfekt).
Eigentlich ziemlich leicht, nicht wahr. Dennoch
finden wir in der Schweizer Presse immer wieder Verstöße gegen diese
Regeln. Beispiele gefällig?
So geht es nicht! Greifen Sie selbst zum Rotstift:
1. Um 11.45 Uhr meldeten Anwohner, dass sich über der Oltner Holzbrücke starker Rauch gebildet hat. (Solothurner Zeitung, 29.3.18)
2. Gewinnmaximierung ist erst dann sinnvoll, wenn die erhaltenen Subventionen minimiert wurden. (Der Bund, 7.2.18)
3. Wegen seines bewaffneten Personenschutzes
kam Bundesrat Johann Schneider-Ammann in eine Situation, die ihm „noch
nie passiert ist“. (BaZ, 29.10.17)
So wäre es richtig gewesen:
1. Um 11.45 Uhr meldeten Anwohner, dass sich über der Oltner Holzbrücke starker Rauch gebildet hatte.
2. Gewinnmaximierung ist erst dann sinnvoll, wenn die erhaltenen Subventionen minimiert worden sind.
3. Wegen seines bewaffneten Personenschutzes kam Bundesrat Johann Schneider-Ammann in eine Situation, die ihm „noch nie passiert“ war. ODER
Wegen seines bewaffneten Personenschutzes kommt Bundesrat Johann Schneider-Ammann in eine Situation, die ihm „noch nie passiert ist“.
(Da es sich hier um einen Bildkommentar handelt,
ist das Präsens im Hauptsatz durchaus angebracht. Dann muss das Zitat
natürlich leicht verkürzt werden.)
Wenn Sie mögen, verbessern Sie doch folgende Sätze:
- Zufälligerweise trafen wir uns im Bus
wieder. Der Streit war vergessen. Gemeinsam haben wir Comics gezeichnet
und uns auch sonst oft getroffen. Wir hörten die gleiche Musik und
mochten die gleichen Filme.
- Ich fragte mich oft, wieso alles so gekommen ist.
- Es ist schade, dass wir nicht auf einander zugehen können, aber es zeigte sich ja, dass es jetzt besser ist.
- Ich habe mit einer Freundin über den
UNO-Beitritt geredet und musste feststellen, dass sie sich nicht
besonders dafür interessiert.
- Ja oder nein zur Volksinitiative «Für
gesunde sowie umweltfreundlich und fair hergestellte Lebensmittel»?
Diese Frage stellte uns letzten Freitag der Staatskundelehrer. Keiner in
unserer Klasse hat sich bis dahin mit diesem Thema befasst.
- In der Schule erzählte ich meinen Freunden stolz, dass ich nun einen kleinen Bruder habe.
- Ich dachte mir nichts dabei, da ich solche Schmerzen schon öfters hatte.
Antworten in der nächsten Folge!
sprachen.be
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