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BUCHBESPRECHUNG

FLIESSENDE GRENZEN
PAR-DELÀ LES FRONTIÈRES – OLTRE I CONFINI – SIN ILS CONFINS
Rezension von Felix Sachs

FLIESSENDE GRENZEN - LITERARISCHE TEXTE ZUR SCHWEIZ

DAS VIERSPRACHIGE UNIVERSUM DER SCHWEIZ IM SPIEGEL IHRER AUTOREN

Dieses Buch hat das Potential zum Bestseller – und verdient es, von allen Seiten gefördert zu werden! FLIESSENDE GRENZEN ist ein spannendes und spannungsreiches Buch, von brennender Aktualität mit allen hier aufgenommenen Texten. Es lässt uns eintauchen in das vielgestaltige Universum der Schweiz mit seinen vier Sprachen und vielfältigen Landschaften. Es zeigt uns jene Schweiz, von der wir herkommen und kaum mehr eine Ahnung davon haben, mit Problemen, von denen die aktuellen Schlagworte oft nur ablenken (Arbeitskräftemangel, 10- oder gar 12-Millionen-Schweiz, Chat-GPT). Das Buch führt in tiefere Dimensionen unserer Volksgemeinschaft.
In einem seiner Texte konfrontiert es uns mit der extremen Armut in einem Tessiner Bergtal mit alltäglichem Tod durch Abstürze, Feuersbrünste, Krankheiten, Nahrungsmangel und sonstigen Entbehrungen in Familien mit zehn und mehr Kindern, die ihre Bewohner zur Auswanderung ins angeblich so reiche Amerika zwang (Plinio Martini, Il fondo del sacco); Auswandererschicksale in einer vielfältigen Saga machen uns vertraut mit einer alten Volksgruppe im Wallis (Therese Bichsel, Die Walserin – Eine Familie wandert durch die Jahrhunderte); Verdrängtes und Vergessenes über die im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert verfolgten Täufer in einer Emmentaler Gemeinde wird ans Licht gehoben (Katharina Zimmermann, Die Furgge); Symbole zweifelhaften Fortschritts mit ihren beängstigenden Eingriffen in die Natur werden durchleuchtet (Maurice Chappaz, Le Chant de la Grande-Dixence).
Daneben lernen wir durch geschichtsträchtige Texte weniger bekannte Seiten berühmter Menschen kennen: Eine freundschaftliche und ernste Ermahnung an die Eidgenossen von Huldrych Zwingli gibt Stoff für Themenarbeiten von Schülern z.B. über die Geschichte des Reislaufens, über die Gefahren der Bestechung, aber auch über Gottesbilder zur Zeit der Reformation und heute, über die Zustände in der damaligen Papstkirche und die Reaktionen darauf durch die Reformatoren; Carl Albert Looslis Anstaltsleben, das er selbst als jugendlicher Zögling auf traumatische Weise erlebt und im Alter von 47 Jahren endlich in einem Roman verarbeitet hat, schildert auf beklemmende Weise die sterile Fassade unter einem diktatorischen Regime in den Gärten, in der Küche und in den Schlafsälen einer Unterbringungsanstalt für Kinder und Jugendliche, wo auch die täglichen gemeinsam gesprochenen Gebete nicht fehlen durften. Die Schilderung lässt uns erahnen, was alles unter dieser Oberfläche auch noch geschehen mochte und in unseren Tagen reihenweise ans Tageslicht kommt.
Von hoher Aktualität sind auch die Texte von Henri Dunant, Un souvenir de Solférino und von Eveline Hasler, Der Zeitreisende. Die Visionen des Henri Dunant. In der Einleitung zu ihrem Buch zitiert sie einen mit visionärer Hoffnung geschriebenen Satz der Friedenskämpferin Bertha von Suttner, mit der Henri Dunant für die gleichen Ziele gekämpft hat: «Das zwanzigste Jahrhundert wird nicht zu Ende gehen, ohne dass die menschliche Gesellschaft die größte Geißel – den Krieg – als legale Institution abgeschüttelt haben wird…» Ein Jahrhundert später, noch während Hasler im Januar 1993 in einem Genfer Archiv in den Memoiren Suttners stöbert, wird sie in ihrem Hotelzimmer durch den Fernseher mit Kriegsszenen konfrontiert: Spitäler werden in Brand geschossen, Konvois des Roten Kreuzes, einer Gründung Dunants, werden am Weiterfahren gehindert. Das 20. Jahrhundert «neigt sich zu Ende. Dunants Gedankengänge sind noch immer durch andere Gedankengänge blockiert.
Diese wenigen Einblicke in das vielfältige Buch mit seinen 464 Seiten seien noch abgerundet durch die gelungene Karikatur des Bündners Theo Candinas über das «glorios gescheiterte» Projekt von Schweizer Universitäten, die verschiedenen romanischen Dialekte mit einer gemeinsamen Schriftsprache (Rumantsch Grischun) zu verbinden und so die amtliche Kommunikation mit dem Bund zu vereinfachen. Im kurzen Gedicht Confess romontsch karikiert er, was dieses Vorhaben für die Bündner selbst bedeutet (hier nach der deutschen Übersetzung gekürzt wiedergegeben): Einheit ohne Verpflichtung, Solidarität für die anderen, Sprachpolitik, die ihre Sprache ruhig sterben lässt «in Einheit und Solidarität». Eine künstliche Einheitssprache ist eben nicht das Gleiche wie die natürlichen Standardsprachen, die wir mit den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Italien gleich dreifach haben. Die gelungene Diglossie-Situation in der Deutschschweiz mit ihren vielen regionalen Dialekten hat Franz Hohler sogar zu seinem Gedicht «An die deutsche Sprache» inspiriert: Er liebt die Hochsprache ebenso wie seinen urchigen, lebendig-anschaulichen Dialekt.
Manche Texte fordern direkt dazu auf, sich noch weiter mit den Autoren dahinter zu beschäftigen. Das Internet bietet uns heute Möglichkeiten, von denen wir noch vor wenigen Jahrzehnten keine Ahnung haben konnten: überraschende Lebensläufe, in besonderen Fällen sogar hilfreiche Einführungen in einzelne Werke.
Dieses Buch füllt eine schmerzhafte Lücke im Schweizer Buchmarkt. In vielfacher Weise kann es integrierend wirken: zur Überbrückung der Gräben zwischen den Sprachregionen, zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses zwischen uns und den Zugewanderten. Um dem Buch den Zugang neben der Deutschschweiz wenigstens auch in die welsche Schweiz zu öffnen, sind alle deutschen Texte ins Französische übersetzt. Uns  Deutschschweizern sind alle französischen, italienischen und romanischen Texte auch auf Deutsch zugänglich. Die Möglichkeit, mit der Lektüre der Originaltexte auch die Sprachen unserer Miteidgenossen zu üben, ist ein beabsichtigter Effekt dieser Darstellung. Sicher wäre es wünschenswert, alle Texte in allen vier Landessprachen lesen zu können, aus leicht verständlichen Gründen jedoch unrealistisch. Vielleicht könnten spezielle Ausgaben für die italienische und die romanische Schweiz auch dieses Desiderat zu gegebener Zeit noch erfüllen.
Der wünschenswerte Erfolg als Bestseller stellt sich nicht von selbst ein. Empfehlungen auf vielen Kanälen mögen dem Buch dazu verhelfen, vor allem für Schulen schon ab der Sekundarstufe I, und zwar gleich in ganzen Klassensätzen, aber auch für Jugendherbergen, Bildungs- und Ferienhäuser und ähnliche Institutionen für ihre Bibliotheken, die ihren Gästen zur Verfügung stehen. Lehrer und sogar Professoren können daraus Inspirationen für ihre Lehrveranstaltungen gewinnen. Dem Radio SRF sollte es in seiner Sendung «BuchZeichen» wert sein für eine würdige Beschreibung. Ich selbst werde es noch lange in Griffnähe halten, um immer wieder in neue Zonen dieses reichhaltigen Universums eintauchen zu können.

Der Romanist Peter Glatthard besorgte die Auswahl und Herausgabe der Texte, zum Teil auch deren Übersetzung. Die aufwendige Arbeit an dem Werk wurde vom Sprachkreis Deutsch seit 2016 begleitet. Peter Glatthard war jahrelang als Übersetzer und Redaktor des Schweizer Parlaments tätig.

Peter Glatthard / Sprachkreis Deutsch (Bubenberg-Gesellschaft Bern) (Hrsg.). FLIESSENDE GRENZEN: Literarische Texte zur Schweiz.
Basel (Schwabe Verlag) 2023.
ISBN 978-3-7965-4759-1 (Printausgabe),
ISBN 978-3-7965-4790-4 (eBook PDF) 464 S., CHF 39.00; EUR 36.40.


 

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