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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
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 Die Berner Melusine des Thüring von Ringoltingen (2/2022)

DIE SCHÖNE MELUSINE 

Thüring von Ringoltingen: Verfasser und Politiker

Thüring gehörte zu einer Familie, die ursprünglich aus Ringoldingen im Simmental stammte. Sein Urgroßvater wurde als Heinrich Zigerli der Krämer in Bern sesshaft, sein Großvater schaffte den gesellschaftlichen Aufstieg und wurde 1383 Mitglied des Großen und 1389 des Kleinen Rates. Er nannte sich nunmehr Heinrich von Ringoltingen, kaufte 1406 die Herrschaft Bätterkinden mit dem Schloss Landshut und wurde damit Twingherr. Sein ehrgeiziger, reicher  und sprachgewandter Sohn Rudolf schlug auch die politische Laufbahn ein und wurde mit wichtigen diplomatischen Missionen betraut. Nach dem Rücktritt des langjährigen Schultheißen Rudolf Hofmeister von 1446 wurde Rudolf im Turnus mit Ulrich von Erlach und Heinrich von Bubenberg mehrmals Schultheiß.

Auf Ostern 1456 gab Rudolf seinen Sitz im Kleinen Rat auf und machte damit seinem Sohn Thüring, der seit 1431 Mitglied des Großen Rates und Landvogt von Nidau und Baden gewesen war, in den engsten Rat der politischen Führung frei. Schon 1458 wurde Thüring zum erstenmal Schultheiß. Er verwaltete außerdem persönlich seine Güter und sein Archiv. Ein männlicher Erbe bleibt Thüring verwehrt, und seine finanzielle Lage wurde gegen das Ende seines Lebens enger. Die Herrschaft Landshut vermacht er schließlich seiner Tochter Antonia und ihrem Ehemann Ludwig von Diesbach.[1] 

Vor seinem Aufstieg in die Berner Regierung schrieb Thüring seine Fassung der Feengeschichte von der schönen Melusine, im wesentlichen eine Übersetzung von Couldrettes Auftragswerk von 1401, Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan, welches die Abstammung der Familie Parthenay von Melusine belegen sollte.

Der Kern dieser Geschichte besteht darin, dass ein Mann eine Verbindung mit einer Fee, einer sog. Mahrte, eingeht und dadurch zu Reichtum, Ehre und Glück kommt; das geht alles gut, solange der Mann eine wichtige Bedingung einhält. Diese besteht im Falle der Melusine darin, dass der Mann nicht danach fragt oder forscht, was seine Frau jeweils samstags tut. Typisch für diese und ähnliche Geschichten ist es auch, dass die Fee Züge einer Fruchtbarkeitsgöttin trägt. Reimund und Melusine florieren wirtschaftlich, mehren ihre Macht und haben zehn Söhne, deren ruhmvollen Taten in der Geschichte eigene Kapitel gewidmet sind. Couldrettes Mélusine und die etwas Version der Geschichte aus dem Jahre 1393 von Jean d’Arras wurden mehrfach abgeschrieben und hatten eine lange Wirkungsgeschichte.[2]

Auch Thürings Werk war sehr erfolgreich. Aus der Zeit zwischen 1465 und dem Ende des 15. Jahrhunderts sind sechzehn Handschriften erhalten,[3] dazu kamen im 15. und 16. Jahrhundert gedruckte Ausgaben und Nachdrucke in Basel, Augsburg, Straßburg und Heidelberg. Lange galt die Augsburger Ausgabe vom 2.11.1474 als Erstausgabe, doch lassen die Wasserzeichen,61-77. die überlegene Qualität der Illustrationen, die Nähe zur Basler Handschrift von Meyer zum Pfeil und die sprachliche Nähe zum Berner Original den Schluss zu, dass die Ehre des Erstdruckes der Basler Ausgabe von Richel 1473/4 gebührt.[4]

Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an lieferte die Geschichte von der schönen Melusine den Stoff für weitere Nachdichtungen: Dramen, Verserzählungen, Romane und Opern.

Die Geschichte von der schönen Melusine

Graf Reimund verirrt sich mit seinem Onkel auf der Jagd im Wald. Als Reimund den Angriff eines Wildschweins abwehr, prallt  seine Lanze ab und trifft den Onkel tödlich. Auf der Suche nach einem Rückweg kommt Reimund zu einer Quelle, dem sogenannten Durstbrunnen. Dort trifft er auf drei schöne junge Damen von Adel. Die schönste von ihnen, Melusine, wirft ihm Unhöflichkeit vor, tröstet ihn dann aber in seinem Leid. Sie macht ihm sogar einen Heiratsantrag. Er muss ihr jedoch versprechen, nie danach zu fragen, wohin sie geht und was sie tut, wenn sie jeweils samstags zurückzieht. Das müsse ihr Geheimnis bleiben, und er dürfe ihr nicht nachspionieren oder sie durch andere beobachten lassen. Solange er dieses Versprechen halte, werde es ihm an nichts fehlen und er wird mächtig, reich und glücklich sein.

Reymund schwört ihr diesen Eid, und das Paar lebt viele Jahre glücklich zusammen. Sie haben zusammen zehn Söhne, die zwar alle irgend eine äusserliche Missbildung haben. Trotzdem werden die meisten erfolgreiche Ritter und bewähren sich in vielen Schlachten. Einige werden gar Feldherren und Könige in fernen Ländern.

 Nach vielen glücklichen Jahren wird Reimund immer häufiger die Frage nach dem samstäglichen Verbleib seiner Frau Melusine gefragt. Sein Bruder macht ihn so misstrauisch, dass er schließlich das Versprechen bricht und Melusine an dem verbotenen Tage heimlich durch einen Spalt in der Tür beobachtet. Er sieht, dass sich Melusines Unterleib beim Baden in einen Fischschwanz verwandelt. Sogleich bereut Reimund seinen Wortbruch; er schweigt zwar darüber, was er gesehen hat, doch er jagt seinen Bruder mit Flüchen aus dem Hause. Melusine ist das Geschehene nicht entgangen, doch sie tut, als ob nichts geschehen wäre, und der Zwischenfall scheint keine Folgen zu haben  

Doch Geffroy, einer seiner Söhne, ist wütend darüber, dass sein Bruder Froimond Mönch geworden ist, und brennt das Kloster samt seinen Insassen nieder. Außer sich über diese Tat und selbst von Gewissensbissen geplagt, demütigt Reimund im Zorn seine Frau und verrät indirekt ihr Geheimnis, indem er sie als Schlage beschimpft.

Das Unheil ist geschehen. Melusine fällt in ihrem Elend hin, wirft Reimund seinen Treuebruch vor und beklagt die Folgen. Wenn Reimund ihr treu geblieben wäre, hätte sie als Mensch sterben können und selig werden können. Jetzt aber muss sie bis zum jüngsten Tag unerlöst bleiben. Auch ihm, Reimund, werde es an Leib und Gut, Glück, Segen und Ehre schlecht ergehen.

Sie nimmt von Reymund schmerzlich Abschied und entschwindet durch das Fenster. Sie umkreist im Flug dreimal das Schloss und fliegt unter lautem Schreien davon. Melusina wird nie wieder gesehen. Nur die beiden Ammen der jüngsten Söhne bemerken noch, dass sie diese einige Zeit nachts im Schloss stillt. Wie vorhergesagt, wird Reimund nie wieder froh.

Als Anhang wird erzählt, wie Geffroy große Heldentaten vollbringt. Geffroy erfährt durch eine Inschrift, dass schon Melusines Mutter Persine das Opfer eines Wortbruchs wurde: ihr Vater hatte sich über das Verbot hinweggesetzt, sie im Kindbett zu besuchen oder ihr nachzuforschen. Ihre drei Töchter – Melusine und ihre beiden Schwester – rächten sich, indem sie ihren Vater Helmas im Berg Awalon einsperrten. Das wiederum hatte zur Folge, dass ihre Mutter sie bestrafte und zu erlösungsbedürftigen Feen machte. So wie Melusine bleibt auch deren beiden Schwestern die Erlösung versagt, weil ihre Ritter scheitern.

Reimund kann Geffroy nun vergeben; er zieht nach Rom zur Beichte und verbringt den Rest seines Lebens als Einsiedler in Montserrat. Auch Geffroy beichtet in Rom und leistet Buße, indem er das von ihm zerstörte kloster wiederaufbaut. Daselbst wird er auch begraben.  

Textprobe aus Thürings Melusine

Reymond kam in di∫er clag zuo einem brunnen ist genannt der turstbrunnen. Bi dem ∫elben brunnen ∫tuondent dry gar chöne iungfrouwen hoch erborn und adelich ge∫talt, die er vor leide und iomer gancz hat über ∫ehen und ir nit acht gehept hat. vnder den die choenste und die jünge∫te zuo im gieng und prach: „Ich hab nie kein edelman o unzüchtig geehen daz er alo für frouwen hin ritte oder gieng und nützit mit innen rette noch innen kein er erbütte.“ Reimond der antwurt ir alles nicht und treib do sin clage ye me fürsich biß dz ie in bi dem zoum gefieng und do zuo im prach: „icherlich, du bewie∫t nit, dz du von adel od’ von eren geborn iget under da du dô wigende für ritet.“

Do nuon Reymond die choenen iungfrouwen erach, er erchrack zuo mol ere und wute nit ob er lebendig oder tott was oder ob dis ein gespent oder ut ein frouwe wêre. Also ach die jungfrouwe wol dz in farwe doetlich getalt wz vor leide und chrecken vnd das er ich entferwete on underloß. Do fieng si aber an und chuldigte in großer untriuwe und unzucht, dz er nit mit ir rette. Do begunde er die uneglich choenheit irs lips vat bechouwen und prang chnelle von nem pferde uff die erden und prach: „Aller choeneste jungfrouwe, ich beger mit flyß an iuwer adelîche tugent, dz ir mir min gro∫∫e unzucht verzihen wellent, den ich in sölichem leide vnd iômer geween bin von eins gro∫∫en iemerlichen ungeuelles wegen.

 

Text: Melusine (2006), Bd. 1, S. 21

Lang- und Kurz-s werden mit einer Ausnahme (da in Zeile 11) nach den alten Regeln streng auseinandergehalten: Das Kurz-s ist ein Schluss-s.

Die alte Unterscheidung zwischen waz ‚was’, daz ‚das, dass’ mit scharfem s (aus german. t)und altem, sch-haltigem s in  was ‚war’ ist verloren gegangen: die Buchstaben s und z werden in den zitierten Wörtern ohne System gesetzt.

 

Reimond kam während dieser Klage zu einer Quelle, die Durstbrunnen genant wird. Dort standen drei sehr schöne junge Damen von hohem Stand und adeliger Erscheinung, die er vor Leid und Kummer übersehen und nicht beachtet hatte.

Die schönste und jüngste unter ihnen ging auf ihn zu und sprach: Nie habe ich einen Edelmann so unhöflich gesehen, dass er so an vornehmen Frauen vorbeiritt oder –ging, dass er nichts mit ihnen redete noch ihnen Ehre erbot. Reimond antwortete ihr überhaupt nicht und fuhr fort mit seiner Klage, bis sie ihm in den Zaum griff und zu ihm sprach: „Du zeigst wirklich nicht, dass du von Adel oder sonst ehrenhaft geboren bist, wenn du da schweigend dahinreitest.“

Als nun Raimond die schöne junge Dame erblickte, erschrak er sogleich sehr und wusste nicht, ob er lebendig oder tot war oder ob dies ein Gespenst oder doch eine edle Dame war. Das Fräulein sah sehr wohl, dass er totenbleich war vor Leid und Schrecken und dass er ohne Unterlass weiter erbleichte. Da fing sie wieder an und bezichtigte ihn großer Untreue und Unhöflichkeit, weil er nicht mit ihr redete. Da begann er ihre unbeschreibliche Schönheit gebannt zu betrachten und sprang schnell von seinem Pferde herunter und sprach: „Allerschönste Dame, ich bitte Euch inständig, dass Ihr mir in Eurer edlen Gesinnung meine große Unhöflichkeit verzeichen möget, denn ich bin wegen eines großen, beklagenswerten Unglücks in Leid und Kummer versunken gewesen.   

 

Kürzen und Längen werden in den Vokalen nicht markiert, wie schon im Hochmittelalter.

Satzzeichen werden sparsam und unsystematisch gesetzt. Im wesentlichen gibt es nur die Virgel (/), heute eher als Slash bekannt.

 

 

 

Transliteration der Überschrift:

Hye merck wye reymond alo yrres rittende in gro∫∫er clag /zuo dem turtbrunnen kam und die iungfrouwe meluina do zuo im kam und in trote und yme alles eyt das yme wider faren oder zuo künftig was

Bild:https://www.kunstgeschichte.phil.fau.de/forschung/forschungsprojekte/abgeschlossene-forschungsprojekte/die-melusine-des-thuering-von-ringoltingen/

 

 Schnyder, André u. Ursula Rautenberg (Hg.): Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456): Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74.

2 Bände. Bd. 1: Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze. Wiesbaden 2006, S. 61–99.

Schneider, Karin. Thüring von Ringoltingen: Melusine. Nach den Handschriften kritisch herausgegeben. Diss. Freiburg i. Ü. Erich Schmidt (Berlin) 1958

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[1] Vinzenz Bartlome. Thüring von Ringoltingen – ein Lebensbild. In: Schnyder (2006), Bd. 2, S. 49-62

[2] André Schnyder. Literarische Aspekte des Werkes. In: Schnyder (2006), Bd. 2, S. 115-6.

[3] Eine kritische Ausgabe der Hss bietet Schneider (1958).

[4] S. dazu den Aufsatz von Ursula Rautenberg: Der Basler Erstruck des Bernhard Richel. In: Schnyder (2006),Bd. 2 , S. 61-77.


 

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