IST NEU IMMER BESSER? Kritische Fragen zu den Schulreformen von Prof. Dr. Mario Andreotti, St. Gallen Frühere Schulreformen von innen heraus Schulreformen hat es seit Jean Jacques Rousseau und Heinrich Pestalozzi, also seit dem 18. und frühen 19.Jahrhundert, in fast regelmässigen Abständen immer wieder gegeben. Ich erinnere da beispielsweise an die staatlichen Reformbemühungen zur Zeit der Helvetik um 1800 oder an die pädagogische Revolution gegen die ‘alte’ Lernschule nach dem Ersten Weltkrieg oder auch nur an das zwischen den Kantonen abgeschlossene Konkordat über die Vereinheitlichung des Schuljahresbeginns anno 1970. All diese Schulreformen hatten zwei ‘Dinge’ gemeinsam: Zum einen war es stets die Schule selbst, die den Anstoss zu den Reformprozessen gab, und zum andern ging es in der Regel um einzelne Reformen in Teilbereichen des Unterrichts, z.B. um eine Reform des Lese- oder Rechenunterrichts in der Volksschule. Seit den1990ern: Ansprüche der Wirtschaft Ganz anders die anfangs der 1990er Jahre eingeleitete, umfassende Schul- und Bildungsreform, bei der es nicht die Schule selber war, die den Anstoss dazu gegeben hatte. Es waren vielmehr äussere Kräfte, vor allem aus der Wirtschaft - ich denke da etwa an den Dachverband Economiesuisse -, die glaubten, in der Schule ein gewaltiges Reformdefizit festzustellen. Die gestiegenen Ansprüche der Wirtschaft, die Nachfrage nach Arbeitskräften mit höherer Bildung, aber auch die starke Zuwanderung bildungsferner Gruppen und nicht zuletzt die rasch fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft liessen den Eindruck aufkommen, die Schule in ihrer bestehenden Form sei den grundlegenden Veränderungen unserer modernen Welt nicht mehr gewachsen. So begann denn die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) zu Beginn der 1990er Jahre - ich deutete es bereits an -, eine umfassende Bildungsreform einzuleiten. Studiengruppen und Projekte wurden bis zum «Geht-nicht-mehr» lanciert. Das Ziel dieser Studiengruppen war und ist nicht mehr irgendeine Schulreform, sondern der totale Umbau des ganzen Bildungswesens. Wenn etwa die Vertreter von Economiesuisse fordern, die bisherigen Jahrgangsklassen aufzulösen und durch digitale Leistungsklassen zu ersetzen, so wird ihre Absicht, unsere gewachsenen Schulstrukturen zu demontieren, mehr als deutlich. «Altersdurchmischtes Lernen» nennen sie das etwas beschönigend. Digitalisierung Die Digitalisierung des Unterrichts ist eines der zentralen Themen, die gegenwärtig die Bildungspolitik und Bildungsreform bestimmen. Zu diesem Schluss kommt der nationale Bildungsbericht 2018, den Stefan Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, vor kurzem vorgelegt hat und der, mit vielen Grafiken und Statistiken ausgestattet, die Basis für die künftige Schweizer Bildungspolitik liefert. Mit der Einführung des Lehrplans 21, auf den ich noch eingehen werde, haben sich die Kantone für die «mediale und digitale Bildung», wie es etwas euphemistisch heisst, fit gemacht, und dies schon auf der Primarstufe. Für das Gymnasium hat die Erziehungsdirektorenkonferenz EDK ein Informatik-Obligatorium beschlossen, das spätestens ab 2022 gesamtschweizerisch in Kraft treten soll. Informatik und Medienkompetenz auf allen Stufen der schulischen Ausbildung umfassend zu verankern gilt für die Bildungsforscher und Reformpädagogen demnach als wegweisend für die Schulen schlechthin. Laptop, Beamer, Tablet, Whiteboard: Digitalität und moderne Techniken verdrängen Altgewohntes wie die Wandtafel aus dem Klassenzimmer. Quer durch alle Stufen sollen die Schülerinnen und Schüler für die Herausforderungen der digitalen Gesellschaft und nicht zuletzt für die Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereitet werden. Das Ganze tarnt sich als Reform, so dass Eltern und selbst Lehrkräfte sich im Glauben wiegen, es handle sich um notwendige Erneuerungen, um einen pädagogischen Fortschritt im Dienste einer verbesserten Bildung. Die Reformen selber kommen so daher, als seien sie völlig alternativlos. Sie suggerieren, es sei Zeit für den Wandel «time for change» - , wer nicht mitmache, sei nicht auf der Höhe der Zeit, sei von gestern. Kritisch denkende Lehrerinnen und Lehrer werden mit mehr oder weniger sanftem Druck auf die neue Linie gebracht, werden durch Schulleiter und Schulbehörden nicht selten auch direkt eingeschüchtert und gemassregelt. Der Satz, mit dem die Mail eines Thurgauer Oberstufenlehrers an mich schliesst, spricht eine deutliche Sprache. Es heisst da wörtlich: «Leider muss ich Sie bitten, meinen Namen nicht zu verwenden, da ich mit Repressalien rechnen müsste.» Das ist kein Einzelfall. Dazu kommt, dass regelmässige Mitarbeitergespräche und lohnwirksame Mitarbeiterbeurteilungen in erster Linie der Disziplinierung der Lehrkräfte auf ihre neue Rolle dienen sollen. Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein persönliches Wort. Wer den Wirbelwind an Reformen, den die Schulen hinter sich haben, um angeblich besser zu werden, kritisch betrachtet, ist noch längst kein Ewig-Gestriger. Er weiss um die Notwendigkeit, die bestehenden Lehr- und Lernformen immer wieder auf ihre fachliche und pädagogische Wirkung hin zu überprüfen und den veränderten Bedingungen anzupassen; er weiss aber auch, dass Schulreformen funktionieren, praxistauglich, ja kindgerecht sein müssen - letztlich zum Wohle unserer Jugend. Die Folgen des Umbruchs 1. Die Rolle des Lehrers Keine Frage: Der radikale Umbau unseres ganzen Schulsystems hat für die Erziehung und Bildung unserer Schülerinnen und Schüler enorme Konsequenzen. Ging es in der Schule bisher darum, Kinder zu ganzheitlichen Persönlichkeiten, zu mündigen Bürgern in einer demokratischen Gesellschaft zu erziehen, so geht es heute vielmehr darum, sie zu ökonomiekompatiblen Menschen zu formen. Dazu dient die Einführung von Marktmechanismen. In erster Linie ist hier - ich tönte es schon an - die Digitalisierung der Bildung, des ganzen Unterrichts zu nennen, so dass der Computer den Lehrer z. T. völlig ersetzt und der Lehrer selber zum Lernbegleiter herabgestuft wird, der nur noch als Coach, gleichsam an der Seitenlinie, den Lernprozess begleitet. Das alte, bewährte Klassenzimmer verkommt so zum Grossraumbüro. Interessant ist dabei die neue Sprachregelung: Aus dem Lehrer wird, wie eben gesagt, ein Lernbegleiter, aus dem Schüler ein Lernpartner und aus dem Klassenzimmer ein Input-Raum oder ein Lernatelier. Besonders peinlich dürfte es sein, wenn aus dem altbewährten und für alle Leute verständlichen Begriff «Unterricht» ein globalesisches «Classroom-Management» wird, ein Begriff aus der Wirtschaft notabene. Im «Beobachter» vom 18. August des vorletzten Jahres, geschätzte Hörerinnen und Hörer, konnte man lesen, die Zukunft der Schule sei digital, Lernen beginne dort, wo Lehren aufhöre. Vor diesem Hintergrund wurden und werden in den einzelnen Kantonen ganze Schulhäuser digital aufgerüstet; Millionen fliessen in die Anschaffung teurer Hard- und Software. Die mächtigen gewinnorientierten Bildungskonzerne drängen in die Schulen, weil sie das grosse Geschäft mit der Digitalisierung wittern. Die öffentliche Bildung droht zu einer privaten Geldquelle zu verkommen. Und dies umso mehr, als die Investition von Millionenbeträgen in die Informatikbildung von den Regierungen fast ausschliesslich mit wirtschaftlichen Argumenten begründet wird, während pädagogische, psychologische, kindermedizinische und staatspolitische Überlegungen z. T. vollkommen fehlen. Damit nun aber kein Missverständnis aufkommt: Gegen den Einsatz digitaler Medien, sofern dies nicht schon in der Primarschule geschieht, ist im Grunde nichts einzuwenden. Aber sie dürfen nicht zum Selbstzweck werden, sondern haben als Hilfsmittel vielmehr unterrichtspraktischen und pädagogischen Zielsetzungen zu dienen. Doch genau hier liegt das Problem. Die Digitalisierung wird heute von Bildungsforschern und Politikern ähnlich unreflektiert angepriesen wie seinerzeit die Globalisierung, von der wir nach zwanzig Jahren wissen, welch enorme soziale und kulturelle Schäden sie verursacht hat. Es ist zu befürchten, dass mit der Digitalisierung unserer Schulen Ähnliches passiert. Die digitalen Medien würden individuelles Lernen ermöglichen und könnten deshalb optimal auf die eigenen Lernfortschritte und die Erfolgskurve abgestimmt werden. So die Befürworter der Digitalisierung, die für die Schule radikale Veränderungen fordern. 2. Individualisierung und soziales Defizit Dabei übersehen sie, dass die Klasse als soziales Ganzes bei dieser völligen Individualisierung ganz aus dem Blick gerät. Gefördert werden nicht mehr junge Menschen, die rücksichtsvoll miteinander umgehen, die lernen, gegenüber der Gemeinschaft Verantwortung zu tragen; gefördert werden vielmehr Individualisten, die in einer virtuellen Parallelwelt leben und dabei die für das Bestehen ihres wirklichen Lebens notwendigen sozialen Kompetenzen kaum noch entwickeln. Lernen in der Schule geschieht in einer Wechselbeziehung zwischen der Lehrperson und den Schülern. Die Digitalisierung der Bildung weist aber in eine ganz andere Richtung: Die Lehrkräfte werden durch Computerprogramme und das Internet ersetzt, werden, wie bereits gesagt, zu Coachs degradiert; sie treten als Wissensvermittler nur noch in kurzen, klassenübergreifenden Inputlektionen in Erscheinung und dürfen danach den Schülern bei der Handhabung der Computer bestenfalls noch Hilfestellung leisten. Die Frage ist , ob sich die künftigen Lehrerinnen und Lehrer mit dieser Rolle des reinen Lernbegleiters begnügen wollen. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass vor allem junge Männer den Lehrerberuf zunehmend meiden. Offenbar hat sich das Bild der Lehrerpersönlichkeit bei der jungen Generation stark gewandelt. Die Vorstellung, als Lehrerin oder Lehrer vor einer Klasse zu stehen und für sie voll verantwortlich zu sein, wird abgelöst vom Bild des Mannschaftsspielers, der im Team mit andern Lehrkräften die Schüler durch individuelle Lernprogramme jagt, «damit sie die gewünschten standardisierten Tests bestehen, die anstelle der Lehrpersonen die promotionswirksame Beurteilung übernehmen», wie Jürg Brühlmann vom Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer wörtlich schreibt. Das kommt einer schleichenden Entmündigung der Lehrkräfte gleich. Und das Ergebnis: Der Lehrermangel, der vor allem auf der Primar- und der Sekundarstufe I heute schon akut ist, wird sich weiter zuspitzen, zumal in den nächsten Jahren die Schülerzahlen in der Schweiz auf Rekordwerte steigen. Keine Frage: IT-Techniken und ihre Handhabung sollen im Schulunterricht der Mittel- und Oberstufe thematisiert werden. Das Problem beginnt dort - ich deutete es bereits an -, wo dies völlig unreflektiert, kritiklos geschieht, wo der digitale Unterricht zu einem industriellen Betrieb verkommt, in dem die Interaktion zwischen der Lehrperson und den Schülern nicht mehr spielt. Denn halten wir uns eines vor Augen: Wie gut die Schule funktioniert, hängt auch in Zukunft weder von der Klassengrösse noch von irgendwelchen Unterrichtsmethoden und schon gar nicht vom Computer ab, sondern von der Persönlichkeit tüchtiger Lehrerinnen und Lehrer. 3. Überforderung der Lernenden Wo aber Lehrer im Unterricht nur noch in kurzen, klassenübergreifenden Inputlektionen in Erscheinung treten und sich ihre Rolle zum reinen Lerncoach hin verändert, da werden die Schüler in sogenannten «Lernateliers» mehr oder weniger sich selbst überlassen. «Selbstorganisiertes Lernen» (SOL) nennt sich diese angeblich neue Lernform. Schon Primarschülern gibt man vor, sie könnten ihren Lernprozess selber steuern. Das setzt eine Vorstellung von Autonomie voraus, über die Kinder noch gar nicht verfügen. Sie fühlen sich allein gelassen, vereinsamen hinter ihren Computern richtiggehend, was Überforderung und Stress auslöst. Selbst Gymnasiasten, vor allem wenn es sich um leistungsschwächere Schüler handelt, bekunden mit selbstorganisiertem Lernen ihre Mühe, wie erste Erfahrungen an Berner Gymnasien gezeigt haben. Ich habe es bereits gesagt: Es ist die Persönlichkeit der Lehrerin oder des Lehrers, ihre fachliche und pädagogisch-didaktische Kompetenz, die zum Lernerfolg der Schüler entscheidend beiträgt. Und genau diese Lehrerpersönlichkeiten, die den Klassenunterricht, immer wieder ergänzt durch andere Lernformen, souverän gestalten, sollen irgendwelchen, von Computern vorgegebenen, gesichtslosen Unterrichtsprojekten weichen. Ist das die Schule, die wir unseren Kindern und Jugendlichen wünschen? Wissen und Kompetenz Befasst man sich zurzeit mit unserem schweizerischen Schulwesen, so stösst man unweigerlich auf den Begriff «Kompetenz». Es ist das neue Zauberwort, das die Lehr- und Studienpläne umkrempeln soll. Die Kompetenztheorie ist die Grundlage für die standardisierten Lernberichte, die selbst Kindergärtnerinnen für jedes Kind ausfüllen müssen: 72 Kreuze auf einer Skala von 1 bis 4. Sie stammt nicht etwa aus der Pädagogik, sondern aus der Ökonomie. In der Wirtschaft wurden Modelle entwickelt, um die Arbeitsleistungen von Mitarbeitenden messbar und vergleichbar zu machen und so deren Einsatz im Unternehmen zu optimieren. Genau diesen Gedanken verfolgt nun auch das Bildungswesen, wie es im neuen Lehrplan 21 festgeschrieben ist: Alles, was Schüler lernen, muss unmittelbar brauchbar sein, damit sie erfolgreich Probleme lösen können. Statt in der Schule nur totes Wissen zu pauken, soll doch, so die neue Doktrin, das gelernt werden, was zur Lebenswelt der Schüler gehört, was mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun hat. Dahinter steckt die Vorstellung der Bildungspolitiker, Wissen sei ein Luxus, der sportliche Bedürfnisse befriedige, im besten Fall ein bisschen Prestige bringe, aber im Alltag kaum verwertbar sei. Was heute zähle, sei nicht Wissen, sondern Kompetenz, lautet ihr Mantra: Danach gehört die Welt nicht dem, der weiss, sondern dem, der kann. Und wenn man doch etwas wissen muss: Google macht’s leicht. Ein paar Mausklicks genügen, und man hat das Wissen der ganzen Welt auf dem Bildschirm. Darum sollen Schüler und Studenten kein unnötiges Wissen anhäufen, sondern lernen, wie man sich Wissen beschafft - eine Haltung, geschätzte Hörerinnen und Hörer, von der auch der Lehrplan 21 durchdrungen ist. Ein erstaunliches Credo für eine Gesellschaft, die sich als Wissensgesellschaft bezeichnet und Bildung als ihren wichtigsten Rohstoff preist. Frühfranzösisch und Frühenglisch Im Zusammenhang mit dem Lehrplan 21 erleben wir seit gut vier Jahren eine erbitterte Debatte über den Fremdsprachenunterricht in der Primarschule. Der Zusammenhalt der Schweiz scheint auf dem Spiel zu stehen. Beim Frühfranzösisch hat die politische Auseinandersetzung zu einem regionalpolitischen Taktieren geführt; beim Frühenglisch geht die Angst um, in einer globalisierten Welt nicht mehr mithalten zu können. Je früher Kinder eine fremde Sprache lernen, desto besser, heisst es. Das stimmt. Aber nur dann, wenn sie die Sprache auf ihre Weise lernen dürfen, wenn die Sprache in ihren Alltag eingebettet ist, wenn die Kinder ausgedehnte Erfahrungen in einem ständigen sprachlichen Austausch mit den Eltern und mit anderen Bezugspersonen machen können. Diese Art, eine Sprache ganzheitlich zu erlernen, wird in der Linguistik als synthetischer Spracherwerb bezeichnet. Er ist in den ersten Lebensjahren am stärksten, nimmt im Verlaufe der Schulzeit deutlich ab und erschöpft sich in der Pubertät weitgehend. An seine Stelle tritt der analytische Spracherwerb, wie er uns aus der Oberstufe wohlvertraut ist: ein Spracherwerb also, der hauptsächlich im Auswendiglernen von Wörtern und im Erlernen von Grammatikregeln besteht. Entscheidend ist nun aber, dass bis zum Alter von zwölf Jahren Grammatikregeln, selbst im Deutschunterricht, für die Schüler erfahrungsgemäss ein Buch mit sieben Siegeln sind. Erst mit dem Einsetzen des abstrakten Denkens in der Oberstufe nimmt das bewusste Verständnis für die Gesetzmässigkeiten der Sprache zu. Damit setzt die Fähigkeit zum analytischen Spracherwerb ein. Kindern auf der Primarstufe eine Fremdsprache analytisch beibringen zu wollen, ist, so gesehen, ein pädagogischer Sündenfall. Sagen wir es für einmal ganz deutlich: Frühenglisch und Frühfranzösisch konnten die Erwartungen, welche die Bildungspolitiker geweckt hatten, nie erfüllen. Berücksichtigt man die Kriterien für einen erfolgreichen Spracherwerb, war ein Scheitern unvermeidlich. Hier ein Wort, dort ein Reim, da ein Lied auf Englisch oder Französisch mag für die Kinder unterhaltend und anregend sein, sprachkompetent werden sie dabei nicht. Dafür ist der Fremdsprachenunterricht in der Primarschule mit seiner minimalen Stundendotation - in der Regel zwei bis drei Lektionen pro Woche - viel zu isoliert. Da kommen die Kinder auch mit der grössten Motivation auf keinen grünen Zweig. Es wäre daher höchste Zeit für das Eingeständnis, dass die Primarschule in den letzten rund fünfzehn Jahren einen kostspieligen und nicht kindgerechten pädagogischen Irrweg eingeschlagen hat. Doch, obwohl umfangreiche Studien und die jahrelangen Erfahrungen der Oberstufen- und Gymnasiallehrkräfte längst gezeigt haben, dass die Frühlerner den Spätlernern sprachlich keineswegs überlegen sind, hält die Allianz aus Bildungspolitik, Verwaltung und vermeintlicher Wissenschaft aus Angst, ihr Gesicht zu verlieren, und befeuert durch enorme Mittel für die Umsetzung, am Frühfremdsprachenkonzept unbeirrt fest. Dabei wird selbst Elementares einfach verdrängt: so etwa die Tatsache, dass in der Deutschschweiz Aufwachsende zuerst die deutsche Hochsprache lernen müssen, bevor sie sich an die Wortformen und die Syntax einer Fremdsprache wagen können. Wer in der Muttersprache argumentieren, einen Text verstehen kann, überträgt diesen Vorteil auf die Fremdsprache. Dagegen wird das Erlernen von Fremdsprachen - das zu sagen ist fast ein Gemeinplatz - ohne eine gewisse Sicherheit in der Muttersprache viel schwieriger. Es nützt wenig, wenn sich Kinder und Jugendliche in drei oder noch mehr Sprachen nur auf bescheidenstem Niveau ausdrücken können. Halten wir uns doch, meine Damen und Herren, an die Zürcher Anglistin Simone Pfenninger, die in ihrer 2014 veröffentlichten, viel beachteten Langzeitstudie zum Fremdsprachenerwerb zum Schluss kommt, dass man Englisch ohne Verlust in die Oberstufe verschieben kann. Nach ihr gilt ganz allgemein: Besser spät und intensiv als früh und halbbatzig. Hausaufgaben abschaffen? Im Zusammenhang mit dem ganzen Umbau unseres Schulsystems sind bekanntlich auch die Hausaufgaben unter Beschuss geraten. Angesichts neuer pädagogischer Ansätze und Unterrichtsformen stellte sich zunehmend die Frage, ob Hausaufgaben noch sinnvoll sind. Es gibt in der Tat eine Reihe bedenkenswerter Argumente, die gegen das Einfordern von Hausaufgaben sprechen. Vor allem drei Argumente sind es, die von den Gegnern von Hausaufgaben, fast durchwegs von Reformpädagogen, immer wieder angeführt werden. Da ist zunächst der Vorwurf der mangelnden Chancengleichheit: Hausaufgaben, so heisst es dann etwa, würden die soziale Ungleichheit im Bildungsprozess verstärken, denn manche Schüler, vor allem aus gut situiertem Hause, bekämen Hilfe von ihren Eltern, während andere auf sich alleine gestellt seien und entsprechend mehr Mühe hätten. Dazu kommt die viel geäusserte Ansicht, Hausaufgaben würden für Schüler und Eltern eine reine Schikane darstellen. Schliesslich wird auch der Lerneffekt von Hausaufgaben bezweifelt: Sie seien für den Lernerfolg nur von sehr geringem Nutzen, würden im Gegenteil demotivierend wirken. Das sind durchaus happige Vorwürfe an ein uraltes pädagogisches Instrument, das bereits im 15. Jahrhundert, mit der Entstehung der ersten öffentlichen Schulen, in den Schulordnungen erwähnt wird und das mit der obligatorischen Schulpflicht Ende des 19. Jahrhunderts Eingang in die kantonalen Schulgesetzgebungen findet. Aber die Vorwürfe beruhen teilweise auf falschen Annahmen. Zum einen überzeugt das Argument, Hausaufgaben wirkten selektionierend, förderten die Chancenungleichheit, nur halb, denn Eltern, die ihr Kind in seinem Lernprozess unterstützen wollen, würden dies auch ohne Hausaufgaben tun. Einmal abgesehen davon, dass eine absolute Chancengleichheit in der Bildung, wie sie zu den Zielvorstellungen des Lehrplans 21 gehört, eine reine Utopie ist. Und zum andern ist der Vorwurf, Hausaufgaben hätten nur einen geringen Lerneffekt, wirkten vielmehr demotivierend, eine unzulässige Verallgemeinerung. Denn Hausaufgaben können durchaus Erfolgserlebnisse beinhalten, vorausgesetzt, dass sie von der Lehrperson sinnvoll ausgewählt werden und nicht in tägliche stundenlange Plackerei ausarten. Zudem kann im Unterricht Gelerntes in neue Zusammenhänge gebracht und so vom Schüler erst richtig verinnerlicht werden. Dazu kommt, dass Wiederholungen erwiesenermassen eine äusserst wirksame Methode sind, Lerninhalte zu festigen. Nicht zuletzt stellen Hausaufgaben eine Verbindung zwischen der Schule und dem Elternhaus her. Oder wie es in einem Merkblatt des Kantons Luzern heisst: «Hausaufgaben sind ein Fenster zur Schule und geben den Eltern Einblick, was dort läuft.» Die Abschaffung der Hausaufgaben, wie sie einige Gemeinden vorgenommen haben, ist im Grunde genommen ein Etikettenschwindel. Sie haben die Hausaufgaben zwar abgeschafft, kompensieren sie aber mit sogenannten «Lernzeiten» während des regulären Unterrichts. Das hat zwar den Vorteil, dass vor allem schwächere Schüler bei Schwierigkeiten die Unterstützung der Lehrperson in Anspruch nehmen können. Das hat aber auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Diese «Lernzeiten» führen zu deutlich mehr Unterricht, was den Schülern wiederum an Freizeit und Erholung abgeht und was auch für die Lehrpersonen eine spürbare Mehrbelastung bedeutet, und dies vor allem wenn die bestehenden Schulen in Ganztagesschulen umgewandelt werden sollen, wie einige Bildungsexperten schon lange fordern. Wenn das nach dem römischen Philosophen Seneca abgewandelte Sprichwort «Non scholae, sed vitae discimus» weiterhin gelten soll, muss die Schule alles daransetzen, die jungen Menschen auf das Leben nach der Schulzeit vorzubereiten. Dazu gehören nun einmal auch Hausaufgaben, können die Schüler an ihnen doch verschiedene grundlegende Haltungen üben: Selbstdisziplin, Pflichtbewusstsein, Durchhaltevermögen, Zeitmanagement, aber auch die Fähigkeit, Probleme selbständig zu lösen. Alles Qualitäten, die später in Ausbildung und Beruf gerade im digitalen Zeitalter von unschätzbarem Wert sind. Reformen im Blindflug Verehrte Anwesende, liebe Freunde einer guten Schule, seit über zwanzig Jahren dauert nun die ganze, nicht endende Reformflut. Selbst Bildungsforscher können die Frage nach den Ergebnissen dieser Dauerreformitis nicht beantworten. Auf die Frage an den Bildungsökonomen Stefan Wolter, welche Reformen in der Volksschule in den letzten zwanzig Jahren funktioniert haben, lautet seine wörtliche Antwort: «Wir wissen es nicht. Es gibt so gut wie keine wissenschaftlichen Studien über ihre Wirkung.» Das heisst doch nichts anderes, als dass man zwanzig Jahre lang mit riesigem Aufwand an unserem Bildungssystem herumlaboriert hat, ohne die Ergebnisse wirklich zu kennen. Das ist etwa das Gleiche, wie wenn ein Arzt ein Medikament verschreibt, das noch nicht umfassend getestet worden ist, das aber offensichtliche und gefährliche Nebenwirkungen hat. Genau dies - ich wiederhole mich - geschieht seit Jahren an unserer Volksschule, wo eine Allianz aus Bildungspolitik, Schuladministration und Wirtschaft der Volksschule Konzepte aufzwingt, ohne je nach deren Wirksamkeit zu fragen. In Deutschland fällt die Bilanz nach über zehn Jahren Erfahrung mit der Kompetenzorientierung vernichtend aus, wie ich im vergangenen November in Irsee im Allgäu an einer Tagung zu hören bekam. Die Folgen seien ein dramatisches Schwinden von Wissen und Können, ein massiver Bildungsabbau. Trotz dieser alarmierenden Zeichen und Ergebnisse passen die Deutschschweizer Kantone ihr Bildungswesen den von aussen gesteuerten Reformen an. Schritt für Schritt entfernen sie sich damit von unserer Volksschule – ja, von einer Volksschule, die zu den besten Schulen in ganz Europa gehört hat. Die Zukunft der Schule nach LP 21 Rekapitulieren wir abschliessend nochmals, wie die Schule der Zukunft aussehen soll: Da werden die Kinder während eines Grossteils ihrer Schulzeit vor einen Computer gesetzt und sich selbst überlassen. Damit soll angeblich die Freude am Lernen gefördert werden. Indessen wissen wir, dass ein wesentlicher Faktor im Lernprozess die Beziehungsebene ist. Wie sollen Kinder nachhaltig lernen, wenn man sie isoliert und wenn jedes von ihnen in einem Grossraumbüro das eigene Programm abspult? Die wohlklingenden «Lernlandschaften» mit dem «selbstorganisierten Lernen», wo die Lernbegleiter ihren Schülern bloss noch Arbeitsblätter zum Selbststudium aushändigen, verunmöglichen es, die wichtige Lernbeziehung der Lehrperson zu den Schülern herzustellen. Erlauben Sie mir, geschätzte Anwesende, dass ich Ihnen ein paar Sätze aus einer E-Mail vorlese, die mir ein ehemaliger Luzerner Sekundarlehrer, Schulleiter und Journalist als Antwort auf meine in der «Luzerner Zeitung» erschienene Kolumne «Lasst sie endlich wieder unterrichten!» am 15. November 2018 gesendet hat. Er schreibt darin wörtlich Folgendes: «Ich war in diesen Tagen als Journalist auf Schulbesuch in einer Primarschule mit einer Gruppe Kantonspolitiker. Der Lehrer […] war als solcher nur äusserlich zu erkennen. Selber trat er nie in Aktion; die Schüler, auf dem Boden liegend, von Arbeitsblättern überhäuft, erarbeiteten irgendetwas. Und dann läutete die Pausenglocke.» Da erübrigt sich - meine ich - jeder Kommentar. Unter den Reformpädagogen gibt es heute bereits Stimmen, die behaupten, digitale Bildung sei in Zukunft ganz ohne die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen zu erwerben. Belege für diese Behauptung fehlen jedoch. Im Gegenteil: Der Blick auf Kinder mit zum Teil erheblichen Leseschwächen, die zu Lernschwierigkeiten, Schulversagen und letztlich zu Problemen im späteren Erwerbsleben führen, zeichnet ein anderes Bild. Das müsste uns endlich hellhörig machen. Es ist Zeit für ein Umdenken Verehrte Anwesende, keine Frage: In der heutigen Bildungspolitik mit ihren unerprobten Schulexperimenten auf Kosten der Kinder ist es höchste Zeit für eine Denkpause, ja für ein Umdenken. Einige Kantone haben dieses Umdenken bereits eingeleitet, haben begonnen, Korrekturen vorzunehmen. So verzichtet beispielsweise der Kanton Nidwalden auf das im Lehrplan 21 hochgelobte, weil angeblich so kreative «Schreiben nach Gehör» und kehrt zur bewährten Rechtschreibung zurück, so dass sich die Schüler von Beginn an die richtige Schreibweise der Wörter einprägen. Weitere Kantone werden folgen - davon ist Bildungschef Res Schmid überzeugt. Im Nationalrat gibt es Stimmen, die dafür plädieren, die höchst umstrittene Lernmethode landesweit zu verbieten. Und so führt der Kanton Basel-Land die Lehrmittelfreiheit wieder ein, nachdem die strikte nach dem Lehrplan 21 aufgebauten, teilweise aber praxisuntauglichen Lehrmittel zu einem teuren Eklat geführt haben. Andere Kantone wiederum prüfen eine Rückkehr, weg von den isolationistischen Lerninseln, hin zu den alterprobten Kleinklassen, auch wenn das erst unter vorgehaltener Hand gesagt werden darf. Schliesslich werden mit einiger Sicherheit in absehbarer Zeit in jenen Gemeinden, in denen die Hausaufgaben im Rahmen des Lehrplans 21 abgeschafft wurden, wieder eingeführt. Ich erinnere da an das Beispiel von Schwyz, wo vor allem die Eltern 1997 die Wiedereinführung der Hausaufgaben forderten, nachdem man sie nur vier Jahre zuvor abgeschafft hatte. Ich komme zum Schluss. Viel zu lange schon wurde und wird Bildung drauflos reformiert und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt ohne Produktehaftung jener, die all das, grösstenteils unter dem Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen, inszeniert haben. Wir brauchen endlich eine Bildungspolitik und eine Pädagogik, die Probleme löst und nicht dauernd neue schafft. Die Zwischentitel sind von der Redaktion gesetzt worden. Buchbesprechung Mario Andreotti: Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache. Verlag FormatOst 2019, 120 Seiten, ISBN 978-3-03895-013-4, Fr. 28.--. Unter einem provokanten Titel, der an Sarrazins Bestseller erinnert, hat der Verfasser, der am besten für sein Standardwerk Die Struktur der modernen Literatur bekannt ist, eine Reihe von Glossen herausgegeben, die in den letzten Jahren im St. Galler Tagblatt erschienen sind. Diese Beiträge sind sehr lesenswert, weil sie sich dem bildungspolitischen Mainstream entgegenstellen und herrschende Lehrmeinungen hinterfragen. Einige der Gedankengänge finden sich auch in Prof. Andreottis kritischer Auseinandersetzung zu Lehrplan 21 in diesem Heft (S. 15-24). Unsere Gesellschaft leidet seiner Meinung nach unter einem Kulturverlust, weil sie zunehmend die traditionelle Bildung geringschätzt und vernachlässigt zugunsten einer modernen, utilitaristischen Bildung, welche dem praktischen Nutzen in Beruf und Alltag dient und auf historischen „Ballast“ verzichtet. Dabei wird aber Bildung mit Ausbildung verwechselt. Dieser Gesinnungswandel hat großen Einfluss auf die Schule vom Kindergarten bis zur Universität. Angesichts des pluralistischen Charakters der Gesellschaft verzichtet heute die Schule auf die Vermittlung von Idealen und Sinnzusammenhänge auf der Grundlage der christlich-humanistischen Tradition. Die Fähigkeit, sich autonom mit den Erscheinungen und Ereignissen der Gegenwart zu befassen, setzt aber voraus, dass wir uns auch eingehend mit Geschichte und Literatur früherer Jahrhunderte befassen. Klassische Literatur bietet auch die beste Gedanken- und Sprachschulung, und indem wir uns auch mit der Geschichte unseres eigenen Landes beschäftigen, lernen wir, wodurch unsere Gesellschaft von heute geprägt worden ist. In den heutigen Schulen, auch in den Gymnasien, fristet jedoch Geschichte als Fach leider nur noch ein Schattendasein. Auch Deutsch ist mit weniger Lektionen dotiert. Schwerwiegend ist jedoch auch folgendes: Früher konnten sich Gymnasiallehrerinnen und -lehrer darauf verlassen, dass ihre Zöglinge an den Sekundarschulen und Progymnasien in Kenntnis und Anwendung der Regeln der deutschen Sprache streng und konsequent geschult wurden. Sie konnten sich deshalb darauf konzentrieren, Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mit Literatur vertraut zu machen und ihnen folgerichtiges Denken und das Verfassen von gut aufgebauten und stilistisch einwandfreien Texten beizubringen. Seit einiger Zeit ist diese Voraussetzung nicht mehr gegeben, und es scheint, dass es oft nicht gelingt, das Verpasste nachzuholen. Prof. Andreotti kritisiert Sparmaßnahmen, welche nach den Hochschulen zunehmend auch die übrigen Schulen dem Einfluss von Sponsoren aussetzen, und wendet sich gegen die Reformwut der letzten Jahrzehnte. Mit der Bologna-Reform ist die Studiendauer an den Universitäten nicht kürzer, sondern eher länger geworden. Regelungen bis in Einzelheiten, eine Häufung von Prüfungen und Semesterarbeiten sowie kleinliche Präsenzkontrollen haben eine Jagd auf ECTS-Punkte zur Folge gehabt, die gewachsene Belastung hat den Studenten das freie Lesen von Werken und die Gewinnung eines Überblicks über die Literaturgeschichte, auch über die einzelner Sprachen, gegenüber früher erschwert. Der Lehrplan 21 setzt die Kinder zu früh der Digitalisierung aus und ermöglicht den IT-Unternehmen und Bildungskonzernen ein einträgliches Geschäft. Es geht dem Verfasser letztlich darum, dass in der Schule ein sinvolles Gleichgewicht zwischen den Fächern aufrechterhalten oder wiedererlangt wird, damit u.a. auch die MINT-Fächer nicht zu kurz kommen. Dem Lehrplan 21 macht der Verfasser auch zum Vorwurf, dass er die Lehrerinnen und Lehrer degradiert, indem er sie zu bloßen Lernbegleitern herabstuft. Mit dem verordneten selbstorganisierten Lernen sind Schulkinder zumindest auf der Primarstufe, aber auch noch darüber hinaus meistens überfordert. Frontalunterricht ist letztlich effektiver. Prof. Andreotti bedauert die Vernachlässigung des Italienischen in der Schweiz, einer Landessprache und wichtigen Kultur- und Wirtschaftssprache. Er ärgert sich auch über den fehlenden Einsatz der Deutschsprachigen für die Geltung ihrer Sprache in Europa, welcher zur institutioniellen Bedeutungslosigkeit des Deutschen geführt hat. Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags in Solothurn am 26. September 2019. Die Zwischentitel sind von der Redaktion gesetzt worden. |