SPRACHENRECHT IN DER SCHWEIZ: ZEIT ZUM HANDELN
Die Schweiz und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRM)
Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen wurde von der Schweiz am 23. Dezember 1997 ratifiziert und trat am 1. April 1998 in Kraft. Die Schweiz verpflichtete sich damit zu Schutz und Förderung ihrer sprachlichen Minderheiten. In Art. 7 Abs. 2 der Charta heißt es:
Die Vertragsparteien verpflichten sich, sofern dies noch nicht geschehen ist, jede ungerechtfertigte Unterscheidung, Ausschliessung, Einschränkung oder Bevorzugung zu beseitigen, die den Gebrauch einer Regional- oder Minderheitensprache betrifft und darauf ausgerichtet ist, die Erhaltung oder Entwicklung einer Regional- oder Minderheitensprache zu beeinträchtigen oder zu gefährden. Das Ergreifen besonderer Massnahmen zugunsten der Regional- oder Minderheitensprachen, welche die Gleichstellung zwischen den Sprechern dieser Sprachen und der übrigen Bevölkerung fördern sollen oder welche ihre besondere Lage gebührend berücksichtigen, gilt nicht als diskriminierende Handlung gegenüber den Sprechern weiter verbreiteter Sprachen.
Eine erste Folge dieser Verpflichtung war Art. 70 Sprachen in der neuen Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) vom 18. April 1998:
Dieser Verfassungsartikel nimmt in Abs. 2 zusammenfassend das Schutzgebot der ECRM auf:
Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten.
Abs. 3 betrifft die Kohäsion zwischen den Sprachgemeinschaften, und Abs. 4 sagt den „mehrsprachigen Kantonen“ Unterstützung zu bei der „Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben“. Abs. 5 wendet sich den beiden zahlenmäßig schwächsten Landessprachen zu:
Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache.
Dieses besondere Augenmerk findet auch seinen Niederschlag im Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften, kurz Sprachengesetz (SpG) vom 5. Oktober 2007.
Das Sprachengesetz und die besondere Förderung von Rätoromanisch und Italienisch
Das SpG enthält allgemeine Aussagen zum Sprachenrecht, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen. Der 5. Abschnitt sichert den Kantonen Graubünden und Tessin, Organisationen und Institutionen sowie Verlagen, welche zur Erhaltung und Förderung des Rätoromanischen und Italienischen beitragen, Finanzhilfe von bis zu drei Vierteln der Gesamtkosten zu.
Als Folge davon werden jährlich Finanzhilfen von mehreren Millionen Franken gewährt. Dazu kommt der Ausbau von RTR, der Radio Televisiun Rumantscha. Die italienische Schweiz hat seit langem eine eigene Radio- und Fernsehanstalt mit Vollprogramm.
Am 1. Januar 2008 ist das Sprachengesetz des Kantons Graubünden in Kraft getreten, welches die angestammten Sprachen sehr weitgehend schützt. Es garantiert zwar den Status quo, legt aber im übrigen fest, dass Gemeinden mit einer Quote von über 40% von Sprechern des Italienischen oder Rätoromanischen als einsprachig italienisch bzw. romanisch gelten.
Es scheint, dass die Gesetzgebung auf den Bestand der sprachlichen Minderheiten in Graubünden stabilisierend gewirkt hat. Die Forcierung von Rumantsch Grischun durch den Kanton hat jedoch den Sprachfrieden beeinträchtigt; unterdessen sind fast alle Gemeinden zu ihren regionalen Schriftsprachen als Amts- und Schulsprachen zurückgekehrt.
Seit dem Inkrafttreten der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen für die Schweiz sind Italienisch und Rätoromanisch vom Bund also kräftig gefördert worden. Italienisch ist allerdings nur im Bund Minderheitssprache: zwar gleichberechtigt, aber de facto tritt es hinter Deutsch und Französisch zurück. Deshalb legt der Bund Wert darauf, dass die Italienischsprachigen in der Verwaltung, besonders auch in den Kaderstellen, gemäß ihrem zahlenmäßigen Anteil an der Schweizer Bevölkerung vertreten sind. Zu diesem Zwecke ist eine Quotenregelung getroffen worden, die nach Aussage der einschlägigen Statistik gut eingehalten wird.
Im Kanton Tessin hingegen ist Italienisch eindeutig Mehrheitssprache, alleinige Amtssprache und in der Gesellschaft unbestritten die Hauptsprache. Der Kanton gilt auch für den Bund als einsprachig italienisch.
Schutz und Förderung des Französischen
Französisch erfährt als Minderheitssprache durch den Bund zwar keine Förderung und finanzielle Unterstützung, aber im offiziell zweisprachigen Kanton Bern gibt es seit 2006 zwei offizielle Organisationen, welche sich für die Belange der französischsprachigen Minderheit einsetzen: den Conseil du Jura bernois (CJB; Bernjurassischer Rat (BJR)) und den Conseil des affaires francophones de l’arrondissement de Biel/Bienne (CAF; Rat für französischsprachige Angelegenheiten des Verwaltungskreises Biel/Bienne (RFB)).
Im Wallis ist Französisch nirgends Minderheitssprache; im Kanton Freiburg ist seit dem 1. Januar 2005 die neue Verfassung in Kraft, welche Deutsch und Französisch rechtlich gleichstellt. Der Kanton nimmt zunehmend seine sprachliche Brückenfunktion wahr und macht sie zu einem Standortvorteil. Die französischsprachige Minderheit in Murten und Umgebung profitiert vom Zugang zu französischsprachigen Schulen und davon, dass die deutschsprachige Mehrheit in der Regel gut Französisch spricht.
Wo bleibt der Schutz für Deutsch als Minderheitensprache?
All animals are equal, but some animals are more equal than others.
(George Orwell, Animal Farm)
Bund
Die besonders hervorgehobene Stellung von Italienisch und Rätoromanisch in der BV und im SpG hat dazu geführt, dass der Bund in zwanzig Jahren nicht wahrgenommen hat, dass es in unserem Lande auch deutschsprachige Minderheiten gibt, obwohl die Deutschsprachigen insgesamt in der Mehrheit sind.
In einer Studie von 2015 heißt es: „Der Bund hat das Rätoromanische und das Italienische als Regional- oder Minderheitensprachen im Sinn der Charta definiert und den Förderungsbestimmungen unterstellt.“ Der Bund handelt immer noch nach dieser Definition. Sie mag einmal gestimmt haben, doch sie ist jedenfalls nicht auf dem neuesten Stand. Die Liste der Minderheitssprachen, welche das ECRM führt, umfasst neben Italienisch und Rätoromanisch auch Frankoprovenzalisch, Französisch, Deutsch und Jenisch (nachgeführt am 28. April 2020). Das heißt: Art. 7 der Charta schützt und fördert eben auch Deutsch in den Kantonen und Gemeinden, wo es eine angestammte Minderheitensprache ist. Dieser Auftrag zu Schutz und Förderung ist übrigens auch in Art. 70 Abs. 1-4 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) enthalten sowie in den Artikeln 2 Abs. a-c und 3 Abs. a-d des Bundesgesetzes über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (SpG).
Der Bund muss deshalb rasch umdenken, um der Verfassung und dem Sprachengesetz nachzuleben. Er hat sich mit der Annahme der ECRM vor über zwanzig Jahren dazu verpflichtet, selbst wenn er die Konsequenzen für den Schutz und die Förderung deutschsprachiger Minderheiten damals vielleicht nicht erkannte oder beabsichtigte.
Kanton Bern
Der Kanton gibt sich in seiner Verfassung ebenfalls den Auftrag, „seinen sprachlichen, kulturellen und regionalen Minderheiten ... Rechnung zu tragen.“ (Art. 4 Abs. 1 KV)
In Art. 5 KV wird dem Berner Jura “eine besondere Stellung zuerkannt”, um “seine sprachliche und kulturelle Eigenart” zu erhalten. Zu dieser Eigenart gehört auch, dass der Berner Jura kulturell und sprachlich nicht homogen ist, sondern auch die Heimat einer kleinen, aber seit langem in der Gegend verwurzelten Minderheit.
In der Expertengruppe zur Förderung der Zweisprachigkeit, deren Bericht im November 2018 herauskam, waren keine Vertreter der deutschsprachigen bernjurassischen Minderheiten vertreten, obwohl sie mit ihrer faktischen Zweisprachigkeit für eine Verständigungspolitik Vorbildcharakter haben und in die Arbeit Wertvolles hätten einbringen können. Im Bericht der Expertengruppe über die Zweisprachigkeit selbst sucht man deshalb Hinweise auf diese angestammte Minderheit vergeblich, obwohl es immer wieder heißt: „Je kleiner eine Minderheit ist, umso mehr muss sie geschützt werden.” Die deutschsprachigen Bernjurassier werden vom Kanton weder geschützt noch überhaupt als schützenswert betrachtet.
Wo liegen die Schwierigkeiten? Diese sind historischer, politischer und psychologischer Natur. Auf die historische und politische Dimension soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Nur soviel: Auf den Vorwurf der germanisation rampante im Berner Jura antwortete der Kanton Bern von 1948 an mit einer ziemlich aggressiven Assimilationspolitik: Es war erklärtes Programm, die noch vorhandenen, meist von Mennoniten geführten deutschen Volksschulen allmählich aufzuheben oder in französische Schulen umzuwandeln. Dieser Prozess ist seit 2018 mit der Schließung der Schule von Schelten abgeschlossen.
Der Vorwurf der schleichenden Germanisierung traf und trifft ins Leere, wie die Studie eines Neuenburger Professors zeigt. Vielmehr haben wir es mit einer francisation rampante zu tun, welche, wenn man es kokett ausdrücken will, zuerst die romanische Bevölkerung erfasste, welche bis ins 19. Jahrhundert nicht Französisch, sondern Patois oder vielmehr Franc-Comtois oder Frankoprovenzalisch (auch Arpitanisch genannt) sprach, eine Sprache, die jetzt auch vom Bund als Minderheitensprache anerkannt worden ist.
Im Berner Jura wird im allgemeinen ein sehr gepflegtes Französisch gesprochen; der Stolz scheint nachzuwirken, das Patois überwunden zu haben und eine Hochsprache mit Prestige zu sprechen. Die berndeutschen Dialekte erscheinen aus dieser Perspektive als etwas Rückständiges. Die Ablehnung des Deutschen wird aber ebenso als Folge des fehlenden geschichtlichen Bewusstseins zu erklären sein. Dieses Bewusstsein fehlt aber heute auch dem Kanton Bern als Ganzem und insbesondere seinen politischen Vertretern.
Kanton Tessin
Die sprachliche Sonderstellung des Dorfes Bosco Gurin, das seit der Mitte des 13. Jahrhunderts die Heimat von deutschsprachigen Walsern ist, wird vom Kanton Tessin durchaus wahrgenommen. Allerdings wurde Hochdeutsch an der Schule im 20. Jahrhundert nur minimal unterrichtet. Wegen Schülermangels besuchen die wenigen Kinder Gurins seit 2002 die Schule in Cevio. Es steht auch eine Gemeindefusion an; damit ist die kleine sprachliche Minderheit stark bedroht. Verhandlungen mit dem Kanton sind im Gange. Für den Minderheitenschutz gibt es übrigens in der ECRM keine zahlenmäßige Untergrenze.
Was ist zu tun?
Der Bund und insbesondere der Kanton Bern müssen in ihrer Politik einen „Paradigmenwechsel“ vollziehen. Dem Kanton Bern obliegt es, den Glücksfall der faktisch zweisprachigen deutschbernischen Minderheit im Berner Jura den welschen Bernjurassiern nahezubringen und auf die Vorteile Gewicht zu legen, welche diese bereits vorhandene Zweisprachigkeit für die Brückenfunktion des Kantons innerhalb der Schweizerischen Eidgenossenschaft bringen kann und für die Verständigung und Kohäsion zwischen den beiden Sprachgemeinschaften innerhalb des Kantons. Ebenso wichtig ist der wirtschaftliche Standortvorteil des Kantons, zu welchem diese Minderheit vermehrt beitragen kann. Ängste sind unbegründet und können leicht entkräftet werden.
Das Umdenken und konsequente Handeln ist dann aber auch ein Lehrstück für den Respekt vor Minderheiten:. Wie heißt es schon wieder im zitierten Expertenbericht? „Je kleiner eine Minderheit ist, umso mehr muss sie geschützt werden.”
Die Zeit drängt, und der Kanton hat einiges gutzumachen. Die Entschuldigung des Kantons bei den Mennoniten vom Jahre 2017 genügt nicht, es ist Wiedergutmachung nötig. Als Erstes muss den Kindern deutschsprachiger Familien die Gelegenheit geboten werden, in der Schule auch Hochdeutsch auf muttersprachlichem Niveau zu lernen. Dafür werden die Welschberner mit ihrer Hochachtung für die Hochsprache gewiss Verständnis haben.
Rennie Wyß
Valär, Rico Franc et al. Die Unterstützung des Bundes für das Rätoromanische. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/162333/1/Valar_Vitali_Andrey_in_Bisaz_Glaser_2015.pdf
Abrufbar auf https://www.coe.int/de/web/european-charter-regional-or-minority-languages/sprachen-der-charta
Frédéric Chiffelle: L'Arc jurassien romand à la frontière des langues. Faut-il craindre la germanisation? Edition Payot, Lausanne 2000.
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