WER SCHREIBT DENN NOCH VON HAND?
Ist die Schreibschrift am Ende?
In der ersten Ausgabe des Jahres 2022 nimmt die Zeitschrift Schweizer Landliebe Bezug auf Leserbriefe, in denen die Zurückdrängung der „Schnüerlischrift“ aus der Gestaltung der Überschriften beklagt wird. Seit der Nummer 6/2020 wird die Laufschrift nur im Titel des Magazins eingesetzt; es wird von Leserseite befürchtet, dass sie nach einer Übergangszeit und Entwöhnungszeit ganz verschwindet. Der Chefredaktor ist sogar in seinem Editorial mit einer Umfrage – versüßt durch einen Wettbewerb – an die Leserschaft gelangt, um herauszufinden, wie sehr diese an dem gefährdeten Kennzeichen der graphischen Gestaltung der Schweizer Landliebe hängt.
Für das Blatt besteht ein Dilemma: Es wendet sich an seine Leserschaft mit einer Darstellung des Landlebens, welche die Liebe zur ländlichen Schweiz und deren architektonischem, gärtnerischem und kulinarischem Erbe verbindet mit dem Wohlfühlbedürfnis verwöhnter Städter und deren zeitgemäßen Anliegen wie Umweltschutz und der Suche nach gestalterischer Originalität auf herkömmlicher Grundlage. Nun möchte die Redaktion die ältere Leserschaft, für welche die Schreibschrift ein Teil ihrer Identität ist, nicht vergraulen und dennoch auch eine jüngere Kundschaft ansprechen, welche kaum mehr von Hand schreibt, sondern ihre Notizen und Einkaufszettel gleich ins Smartphone eintippt.
Die Schreibschrift, die viele von uns – immer noch täglich oder doch häufig - verwenden, um auf Papier etwas festzuhalten, hat ja seit der Jahrtausendwende in zunehmendem Maße an Bedeutung verloren. Die Grundlage dieser Schreibschrift, die Schweizer Schulschrift, wurde landesweit in der Primarschule bis vor wenigen Jahren in einem eigenen Fach, dem Schreiben, gelehrt, nachdem die Schüler die „Steinschrift“ gelernt hatten.
Der Sinn einer Schreib- oder Laufschrift ist es, die Schreibgeschwindigkeit zu beschleunigen, indem das Schreibzeug zwischen den einzelnen Buchstaben eines Wortes nicht abgesetzt wird. Die Schreibschrift wird in der Regel als Gebrauchsschrift verwendet, kann aber bei Bedarf durchaus auch kalligraphischen Anforderungen genügen. Nun ist abzusehen, dass bei der nachwachsenden Generation die Fertigkeit des zusammengehängten Schreibens langsam verloren geht und dieses nur noch von wenigen Liebhabern als Steckenpferd gepflegt wird. Ersetzt wird die Schweizer Schulschrift durch die Basisschrift; damit wird der grundsätzliche Unterschied zwischen Steinschrift und Schreibschrift aufgehoben, d.h. die Steinschrift ist so umgestaltet worden, dass es möglich wird, spontan einzelne Buchstaben zu binden.
Der Ersatz der Schweizer Schulschrift durch die Basisschrift wurde durch einen Beschluss der EDK im Jahre 2014 den Kantonen empfohlen. Zürich und andere Kantone haben seither die Basisschrift zum verbindlichen Lehrstoff erklärt; der Kanton Bern hat sich in liberaler Weise damit begnügt, den Schulen die Wahl zwischen Schweizer Schulschrift und Basisschrift zu überlassen. Es ist aber recht wahrscheinlich, dass sich trotz dieser behördlichen Zurückhaltung die Basisschrift allmählich durchsetzen wird.
Damit werden wir wieder ungefähr beim Zustand am Ende des Mittelalters angelangt sein, als Schriften verbreitet waren, die sich grundsätzlich sowohl für den Druck als auch für das Schreiben von Hand eigneten: die Bastarda und die humanistische Kursiva. Beide Schriften ließen eine „diskrete“ Verbindung zwischen den einzelnen Buchstaben sowohl von Hand als auch beim Zusammensetzen der Lettern im Druck zu. Die Bastarda war eine vereinfachte Form der mittelalterlichen Buchschrift Textura (ca. 1300-1500), während die humanistische Kursiva eine Schrift der Renaissance war.
Blüte und Niedergang der Laufschrift
Lesen und Schreiben im Mittelalter
Im Mittelalter war das Lesen und Schreiben vornehmlich bei der Geistlichkeit verbreitet, vor allem in den Klöstern. Beim hohen und niederen Adel gab es keine allgemeine „Gelehrtheit“, d. h. viele Adlige, sogar Könige, konnten kaum oder überhaupt nicht lesen. Von den Dichtern des Mittelalters konnten die Ritter Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und der bürgerliche Gottfried von Straßburg lesen. Sie stellten eher eine Ausnahme dar. Sie konnten zwar lesen, waren aber bei der Aufzeichnung ihrer Werke auf Schreiber angewiesen.
Erst von etwa 1350 an nahm die Alphabetisierung des Adels schnell zu. Wie viele Leute lesen und schreiben konnten, lässt sich nur sekundär und ungenau erschließen. Es ist davon auszugehen, dass der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung im westlichen Europa auch am Ende des Mittelalters im einstelligen Bereich blieb, wenn wir die selten eingeschulten Frauen mit einrechnen.
Der Aufstieg der Laufschrift
Zur größeren Verbreitung des Lesens und Schreibens trugen bekanntlich zwei Ereignisse bei:
- die Erfindung des Buchdruckes durch Gutenberg von 1452
- die Reformation und die Verbreitung der Lutherbibel von 1521 (Neues Testament), 1534 (Altes und Neues Testament) und 1545, AT und NT, Ausgabe von letzter Hand)
Der Buchdruck erlaubte eine wesentlich effektivere, billigere und schnellere Verbreitung von Büchern und machte bald einmal das Abschreiben von Hand überflüssig. Die Kalligraphie, die Kunst des schönen Schreibens, verlor an Bedeutung, blieb aber wichtig für das Erstellen von Verträgen und amtlichen Dokumenten, die leicht lesbar sein sollten.
Schon um 1400, vor dem Buchdruck, dann aber parallel zu diesem und in wachsender Eigenständigkeit entwickelten sich Laufschriften für den weltlichen Bereich, für die Bedürfnisse von Unterricht, Recht und Handel sowie natürlich auch für Druckvorlagen.
Die Laufschriften entwickelten sich von Beginn an in zwei Strängen, der Kurrentschrift und der lateinischen Schrift, die sich bei ihren Nutzern zumindest bis etwa 1700 teilweise mischten, sich dann aber unabhängig und geographisch getrennt entwickelten (mehr dazu im Artikel zu diesem Thema in Mitteilungen 1/2022!).
Luther und die anderen Reformatoren legten Wert darauf, dass die Bibel den Leuten mit ihren modernen Übersetzungen unmittelbar verständlich und zugänglich gemacht wurde. Dank dem Buchdruck konnte das geschehen in wohlhabenden Familien und in Schulen, welche die Kunst des Lesens und Schreibens verbreiteten, vor allem und zuerst in protestantischen Ländern. Pietismus und Aufklärung trugen zur Verbreitung des Schulunterrichts und damit zur Alphabetisierung bei.
In der Schweiz brachte die Regeneration einen weiteren Schub nach 1830; der Liberalismus begünstigte zudem die Industrialisierung, welche ihrerseits die Notwendigkeit verbesserter Schulung verstärkte.
Obwohl die allgemeine Schulpflicht in der Schweiz erst mit der Bundesverfassung von 1874 eingeführt wurde und im Deutschen Reich sogar erst 1919, können wir davon ausgehen, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung in den Industrieländern größtenteils lesen und schreiben konnte.
Der Ausbau des Schulwesens führte auch zur Gestaltung und Einführung von Schulschriften, die ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert hatten. (Auch hierzu weiteres im Artikel zu diesem Thema in Mitteilungen 1/2022!)
Der allmähliche Niedergang der Laufschrift
Die Laufschrift bewahrte ihre große Bedeutung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und wurde dementsprechend auch in der Schule gepflegt. Sie erhielt jedoch allmählich Konkurrenz durch technische Hilfsmittel.
Im 19. Jahrhundert wurde in mehreren Ansätzen die Schreibmaschine erfunden; in den 1870er Jahren wurden die ersten Modelle von Remington in Serie hergestellt. Um 1900 hielt die Schreibmaschine rasch in Ämtern und privaten Unternehmen Einzug.
Immerhin konnten noch bis zur Jahrhundertmitte literarischen Werke als handgeschriebene Manuskripte bei Verlagen eingereicht werden, jedenfalls dann, wenn ihre Verfasser schon bekannt und etabliert waren. Darauf folgte eine Zwischenphase, in welcher die Schriftsteller ihre Manuskripte mit der Maschine schrieben, aber einen breiten Rand mit Platz für nachträgliche handgeschriebene Korrekturen freiließen.
Bis in die Neunzigerjahre hielt sich die Gepflogenheit handschriftlicher Bewerbungen – entweder für das Bewerbungsschreiben selbst oder für den Lebenslauf.
Im 20. Jahrhundert erlebte die Laufschrift noch eine Sonderblüte in Form der Kurzschrift oder Stenographie. Oft diente ein Stenogramm als Vorstufe zur hand- oder maschinengeschriebenen Reinschrift. Ein Nachteil der Kurzschrift bestand allerdings darin, dass sie jeweils in ihrer Verbreitung auf eine Sprachgemeinschaft beschränkt war. Dabei konkurrierten verschiedene Systeme miteinander, die entweder von einander ganz verschieden waren, wie Pitman und Gregg im Englischen, oder zwar verwandt, aber doch nicht ohne zusätzlichen Lernaufwand gegenseitig verständlich waren, wie im Deutschen Stolze-Schrey und die Deutsche Einheitskurzschrift. Stolze-Schrey war bereits als ein Fusionssystem 1897 entstanden und verbreitete sich rasch in Norddeutschland und der Schweiz; dennoch wurde in Deutschland 1929 die eben erwähnte DEK geschaffen.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde durch die Entwicklung und Verbreitung digitaler Rechner die Schreibmaschine obsolet. Zwar blieb die Anordnung der Buchstaben auf der Tastatur im wesentlichen erhalten, doch wurden nun an die Fertigkeit beim Schreiben weniger Anforderungen gestellt, weil Korrekturen leicht und auf dem Dokument spurlos vorgenommen werden konnten. Dazu standen jetzt weitere Wahlmöglichkeiten zur Verfügung: neben Unterstreichung auch Kursiv- und Fettschrift und nicht zuletzt eine wachsende Zahl von Schriften, welche den Schreibenden ungeahnte Möglichkeiten graphischer Gestaltung boten, die vorher den Druckereien vorbehalten gewesen waren.
Die private Schreibtätigkeit wurde durch diese Entwicklung zunächst nur am Rande bedrängt, da in den westlichen Ländern bis zum Jahre 2000 nur eine Minderheit der Haushalte über einen Computer verfügte. Das sollte sich mit der zunehmenden Nutzung des Internets jedoch bald ändern. Zuerst löste die E-Post die handgeschriebene Post zunehmend ab, und dann wurden dank Mobiltelefonen und Smartphones die Leute jederzeit per SMS und MMS oder über soziale Medien erreichbar. Auch der Notizblock aus Papier hat an Bedeutung verloren, weil alle möglichen Apps für Notizen und Kalendereinträge zur Verfügung stehen.
Die Digitalisierung mag vieles erleichtern, der Umgang damit muss aber gelernt und geübt werden und stellt heute auch Anforderungen an die Schule. Die Fächer und Lerninhalte können jedoch nicht beliebig aufgestockt werden, deshalb sind auch Abstriche und neue Lehr- und Lernformen nötig. Stenographie wurde an den kaufmännischen Berufsschulen zu Beginn der Neunzigerjahre abgeschafft, und in der Primarschule ist die Schweizer Schulschrift als Ausgangsschrift auf Empfehlung der EDK von 2014 in der deutschen Schweiz weitgehend durch die Basisschrift ersetzt worden. Sie verzichtet noch radikaler auf Schlaufen, welche die möglichen Verbindungen zwischen den Buchstaben andeuten, als die deutsche Grundschrift, die in einigen Bundesländern erlaubt ist als Alternative zu den älteren Ausgangsschriften, der Schulausgangsschrift von 1968 und der Vereinfachten Ausgangsschrift von 1972. Auf die Auseinandersetzungen um die Neuerungen soll hier nicht näher eingetreten werden. Wie auch immer die veränderten Zielsetzungen gewertet werden, ist doch zu bedenken, dass auf eine sowohl schöne und flüssige Handschrift heutzutage weniger Wert gelegt wird und dass der Fleiß und der Ehrgeiz vieler junger Leute, eine attraktive persönliche Handschrift zu entwickeln, schon seit langem relativ gering sind. Die Schulschrift hat ihr Ziel bei vielen verfehlt; mit der neuen, nun offiziellen Basisschrift wird es nicht besser werden, aber es werden Unterrichtsstunden frei für andere Zielsetzungen.
Wer über das Schreiben selbst schreibt, gerät bald unweigerlich in Schwierigkeiten mit der Terminologie. Für das Schreiben von Hand bietet sich der Begriff Schreibschrift an. Wir haben uns dagegen entschieden, weil dieser Terminus zweideutig ist: Damit wird nicht nur eine Schrift für das Schreiben von Hand bezeichnet, in der die Buchstaben der Wörter fortlaufend oder wenig unterbrochen geschrieben werden, sondern er kann auch eine Klasse von Schriftarten bezeichnen, die im Blei- oder Computersatz für den Druck verwendet werden. Das Synonym Kursive ist zwar an sich eindeutig, birgt aber auch Verwechslungsgefahr: das Adjektiv kursiv und das Nomen Kursivschrift bezeichnen in der Typographie eine nach rechts geneigte Satzschrift.
Zur Alphabetisierung im Mittelalter: Wendenhorst, Alfred. „Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?“In: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte e. V. Bd. 30 (1986) S. 9-33. https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/vuf/article/download/15806/9674/
Criblez, Lucien. Schule für alle. 2017 (terminus a quo)
https://www.schulmuseum.ch/media/1526/nzz-geschichte-vs2.pdf
Bächtiger, Franz u. de Capitani, François (hg.). Lesen, schreiben, rechnen: die bernische Volksschule und ihre Geschichte. Bern (Stämpfli) 1983.
http://www.schmidt.hist.unibe.ch/veroeff/SchmidtHRVolksschule.pdf
Eine kritische Stimme aus Deutschland ist jene von Renate Tost: https://web.archive.org/web/20170414163516/http://deutschesprachwelt.de/archiv/papier/2012_DSW49_Tost_Grundschrift.pdf
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